Dich kennen wir doch

Die längste Zeit war der Mensch sein eigenes Kuscheltier. Er war es schon deshalb, weil es keine anderen Kuscheltiere gab, die man dem Kind ins Bett legen konnte, keine Teddys, Hündchen oder Tiger, auch keinen Schlummerotter, wie ihn die Spielzeugfirma Mattel seit einiger Zeit vertreibt. Ein „Sensimal“ sei dieser Otter, heißt es bei Mattel, weil er eben nicht bloß ein Otter sein soll, sondern eigentlich ein flauschiger Mini-Mitmensch, der einfühlsam vor sich hin atmet, sein Herz schlagen, das Bäuchlein glucksen und glosen lassen kann. Damit aber nicht genug, die Zukunft wird noch sensimaler: Mattel will, wie gerade bekannt wurde, die Kuschel- und Spielzeugwelt umprogrammieren, sie noch mitfühlender machen, und hat sich deshalb mit OpenAI zusammengeschlossen, einem der wichtigsten Entwickler künstlicher Intelligenz. Wie immer, wenn KI ins Spiel kommt, geht es nicht bloß um ein bisschen Technik. Es geht um den Beginn einer Epoche: Die Kindheit soll neu erfunden werden.

Wird also der Otter demnächst auch chinesische Weisen summen, um das kulturelle Weltverständnis schon im Säuglingsalter zu weiten? Oder könnte sich die von Mattel vertriebene Barbie endgültig als gewitzte Influencerin erweisen, weil sie bald schon nicht nur Schmink-, sondern auch Programmiertipps geben kann und nebenher die allerbeste Freundin sein wird, der man stundenlang sein Herz ausschüttet und die immer ein aufbauendes Wort zu sprechen vermag?

Noch hat Mattel nicht verraten, an welchem Spielzeug genau man die Idee einer alles wissenden, alles verstehenden Technik erproben möchte. Schon jetzt aber lässt sich sagen: Sie wird nicht nur die Kinder verändern. Sie verändert das Sein in der Welt.

Man muss das so hochgestochen philosophisch formulieren, weil bislang noch jede Technik ihre Rückwirkung hatte: eine Rückwirkung auf die Art und Weise, wie der Mensch auf sich selbst schaut und auf die Dinge, mit denen er sich umgibt. Und wenn die Kuscheltiere nun neugierig zurückschauen, alles wahrnehmen und verstehen wollen, dann dürfte schon bald auch der Rest der nicht belebten Mitwelt quicklebendig erscheinen. Was eine verdammt unheimliche Vorstellung ist. Und eine, die ungemein tröstlich sein kann.

Schon einmal, vor zehn Jahren, hatte Mattel eine Smart Barbie entwickelt, ausgestattet mit einem Mikrofon und verbunden mit irgendwelchen Großcomputern. Damals war der Ärger riesig, das endgültige Ende der kindlichen Arglosigkeit schien kurz bevorzustehen, und weil die Bedenken beständig wuchsen, wurde die Spionin der Kinderzimmer bald nicht mehr ausgeliefert. Unterdessen aber hat sich die Gefühlswelt gewandelt: So wie Zahnbürsten, Waschmaschinen oder Staubsauger zu Datenaustauschstationen mit WLAN-Anschluss umgerüstet werden, hat sich auch die Spielewelt den Verheißungen der KI geöffnet. Vielen Eltern kommt es nun vollkommen selbstverständlich vor, schon ihre Kleinsten mit digitalen Lernprogrammen und eifrig vor sich hin fiependen Robotern aufwachsen zu lassen. Denn so ist sie nun mal, die Digitalmoderne: Wer nicht wischt und tippt, kann kein Mensch sein.

Für die Techgiganten des Silicon Valley eine durch und durch frohe Botschaft – eben noch Datenkrake, jetzt Kuschelwesen. War künstliche Intelligenz bislang etwas seltsam Körperloses, allüberall im Einsatz, doch nirgendwo zu greifen, bekommt sie jetzt einen Leib zum Liebhaben. Die Zumutung der Abstraktion, die darin liegt, dass alle Lebenssphären datafiziert und also den Blicken und der Kontrolle entzogen werden, bekommt in Gestalt des Spielzeugs eine wunderbar anschmiegsame Seite. Die Technik wird unmittelbar und warm. Und ist damit nicht länger nur ein Tool, ein digitales Werkzeug, sondern ein Wesen aus eigenem Recht.

So jedenfalls könnte es sich in Zukunft anfühlen: dass künstliche Intelligenz nichts ist, was nur äußerlich wäre und gelegentlich als tumber Androide auftritt. Nein, gerade in ihrer Kuschelform wird sie zum Gefährten, Begleiter, zum zweiten Ich. Denn genau das ist es ja, was Puppen schon immer waren. Mehr als nur ein Ding aus Stoff oder Plastik, das man irgendwann, abgeliebt und zerknuddelt, in den Müll wirft. Eine Puppe ist ein Ding und ist keines, sie weiß um so vieles, hat so vieles miterlebt und -erlitten, man will nicht von ihr lassen. Erstaunlich viele Erwachsene teilen deshalb ihr Bett mit Kuschelwesen ihrer Kindheit, niemand ist ihnen treuer, niemand verbundener.

Schon lange wünschen sich die Digitalkonzerne ebendas: Ihre Programme sollen als menschlich wahrgenommen werden, wer immer mit ChatGPT und anderen Auskunftsmaschinen kommuniziert, wird zuvorkommend und einfühlsam behandelt. Die Computer sind bemüht um persönliche Ansprache, sie tun so, als kennten sie uns wie ein guter Freund. Und also ist die Eroberung der Kinderzimmer nur ein folgerichtiger Schritt: um nicht nur klug zu erscheinen, höflich oder hintersinnig, sondern unbedingt auch seelenvoll und anrührend. Die Technik enttechnisiert sich.

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