Diashow Kreuzberg

Das erste
Bild zeigt ein österreichisches Dorf Ende der Achtzigerjahre, eingebettet in
eine bergige Schneelandschaft. Zwei Kirchtürme ragen zwischen den Häusern
hervor, ihre zinkbronzenen Glocken verkünden das Abläuten der Zeit.

Bild zwei
stammt vom Tag nach dem Mauerfall. Zu sehen ist ein Grundschulkind in seinem Tiroler
Klassenzimmer. Es hat soeben vom Mauerfall erfahren und würde sich diese Mauer,
die in seiner Vorstellung aus großer Höhe auf die Erde fällt, gerne anschauen.
Vom „Mythos Kreuzberg“ weiß die Kleine noch nichts, doch mit mythisch
verklärten Orten kennt sie sich schon aus. Kaum erzählt sie nämlich außerhalb,
dass sie aus der Nähe von Kitzbühel stammt, tritt ein Glanz in die Augen ihres
Gegenübers, fast so, als wäre dem Kind binnen Sekunden eine dicke Goldkette
gewachsen. Die Kraft, die von Kitzbühel ausgeht, taucht auch das Mädchen in ein
goldenes Licht.

Das nächste
Bild stammt aus der Mitte der Neunzigerjahre. Das Mädchen ist in die Pubertät
gekommen. Es hat seinen Kinderglauben verloren, der ihm die Hässlichkeit der
Welt ertragbar gemacht hat, indem er diese Hässlichkeit hinter einem ordnenden
Gerüst versteckte. Jetzt liegt alles offen da. Der Reichtum der einen, die
Armut der anderen. Der tägliche Rassismus und Sexismus, der im Umfeld des
Mädchens als Kultur gefeiert wird. Es will kein Teil davon sein. Mit jeder
Faser sehnt es sich nach einer gerechteren Welt.

Auf dem
Höhepunkt dieser Sehnsucht Bild Nummer fünf: eine junge Studentin, die in einem
ranzigen WG-Zimmer in Marseille zum ersten Mal die Stimme Rio Reisers hört. Der
Klang elektrisiert sie. Noch mehr bewegen sie die Texte, in denen eine Welt
besungen wird, wie sie ihr selbst zwingend nötig erscheint. – das wünscht sie sich. Rio Reiser singt von Kreuzberg. Erst
lauscht die junge Frau sich dorthin, hört die Lassie Singers um Christiane Rösinger und Stereo Total. Kaum ist ihr
Auslandssemester in Frankreich beendet, packt sie daheim in Tirol erneut die
Koffer und düst „ab nach Berlin, dorthin wo die Leute aus Heimweh hinziehenwie es in dem Song der Band Blumfeld heißt.

Das nächste
Bild ist eine Luftaufnahme vom Berliner Bezirk SO36 aus dem Jahr 2004. Zu sehen
sind die Straßenzüge
zwischen Oberbaumbrücke und Halleschem Tor. Auch wenn ihr die Ost-Avantgarde in
Prenzlauer Berg und das bunte Treiben in Neukölln gefallen, ist Berlin für die
junge Frau gleichbedeutend mit Kreuzberg. Nur dort weht der Wind, der ihren
Träumen Auftrieb gibt. Sie findet (Bild sieben) ein Zimmer in einer
feministischen WG, und einige in der Rückschau verklärte Monate lang lebt das
Kreuzberg Rio Reisers für sie wieder auf. Sie geht auf Demos (Bild acht), klebt
Plakate (Bild neun) und liest sich durch die feministische, marxistische und
anarchistische Literatur (Bilder zehn, elf, zwölf). Sie ist nun Teil einer
Bande und zu allem bereit.

Auf dem
nächsten Bild, im Jahr der Fußball-WM 2006, ist die Wassertorstraße in
Berlin-Kreuzberg zu sehen. Von fast allen Balkonen wehen selbst hier, in diesem
migrantisch geprägten Kiez, erstmals seit Jahrzehnten Deutschlandfahnen. Die
junge Frau ist entsetzt, doch schiebt sie das Gefühl beiseite. Sie hat ihren
Sehnsuchtsort doch gerade erst gefunden, ist noch nicht bereit für die nächste
Enttäuschung.

Auf dem
folgenden Bild ist sie frisch verliebt und zieht in eine neue WG, in der es
nicht mehr ganz so alternativ zugeht. Zeitgleich werden, wie die nächsten
Bilder zeigen, Wagenplätze geräumt und besetzte Häuser gestürmt. Überall wird
luxussaniert. Das Überleben mit wenig Geld wird zunächst schwierig, dann für
die meisten unmöglich.

Schon auf dem
nächsten Bild ist Kreuzberg kein Spielplatz der Möglichkeiten mehr, sondern ein
Spielplatz des Geldes. In immer rascherer Folge wechseln nun die Bilder, es ist
derselbe Takt, in dem auch die Kreuzberger Mieten steigen. Die Menschen, denen
man auf den Bildern zusehen kann, wie sie die renovierten Wohnungen beziehen,
sind keine Migrant*innen mehr, sondern . Viele arbeiten im neu
hochgezogenen Büroviertel jenseits der Spree.

Das alles ist
oft erzählt worden, und doch wird von manchen noch immer der „Mythos Kreuzberg“
beschworen und der Geist Rio Reisers die Oranienstraße hinuntergeschleift,
an vollgetaggten Fassaden vorbei, die nun etliche Millionen wert sind.

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