Die politische Kultur der Bundesrepublik steht an einem
Scheideweg, seitdem in der letzten Januarwoche der Kanzlerkandidat der Union,
Friedrich Merz, absichtliche Mehrheiten mit der rechtsextremen AfD ermöglichte.
Einerseits handelte es sich dabei um einen Erpressungsversuch gegenüber
zukünftigen Koalitionspartnern, denen man „die Instrumente zeigte“, aber auch
gegenüber der eigenen Partei, denn so kurz vor der Wahl öffnete sich ein
Gelegenheitsfenster. Der Widerspruch konnte zum Verrat umgedeutet werden, selbst
im Lager der FDP, und die öffentliche Meinung stand mehrheitlich hinter den
inhaltlichen Vorschlägen. Merz‘ Erweiterung des abstimmungstechnischen
Möglichkeitsraums diente außerdem der Etablierung eines neuen Politikmodells.
Oft ist bei ihm von „Führung“ die Rede. Jetzt zeigte er, dass es dabei um das
Modell der plebiszitären Führerdemokratie geht, welches Max Weber einst
propagierte.
Der große deutsche Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel hat
dieses Modell im Jahr 1958 eindrücklich beschrieben. Demnach „ist die
plebiszitäre Demokratie eine Art charismatische Herrschaft, die sich unter der
Form einer vom Willen der Beherrschten abgeleiteten und nur durch ihn
fortbestehenden Legitimität verbirgt.“ Bei seinen Vorstößen im Parlament zog
Merz alle Register charismatischen Führungsschauspiels. Er gab sich
entschlossen, kämpferisch und als derjenige, der das umsetzt, was die
Bevölkerung möchte. Gleichzeitig war er dann wieder demütig, gab den Verfechter
des Parlamentarismus, der öffentlichen Debatte und des Dialogs unter
demokratischen Parteien. Gar als Last beschrieb er seinen Weg. Am 29. Januar
sprach er im Bundestag davon, „jetzt aufrechten Ganges das zu tun, was
unabweisbar in der Sache notwendig ist“. Selten wurde ein Wortbruch
vielschichtiger begründet.
Die Eröffnung der Machtoption wechselnder Mehrheiten
und der implizite Versuch, den Landesverbänden gänzlich freie Hand bei
Abstimmungen (und mehr?) mit der AfD zu geben, wurde als
entschlossen erzwungene Ausübung der Pflicht zur Mehrheitsherrschaft
dargestellt. Wäre es Merz vornehmlich um die Sache gegangen, hätte er das
abschließende Angebot zur Beratung im Ausschuss angenommen, wohlwissend, dass
ein mit der AfD beschlossenes Gesetz im Bundesrat sowieso scheitern würde. Hier
ging es aber primär darum, den starken Mann in all seinen pseudoverletzlichen,
stringenz- und volksorientierten Facetten zu inszenieren. ,
so betitelte die Politikwissenschaftlerin Nadia Urbinati ihr Buch über
populistische Führerschaft. Der Fraktionschef der Union trat genauso auf: Ich,
der Volkswille.
Dass Merz so handelte und dabei mit Erfolg rechnete, hat
neben offensichtlichen Megatrends mehrere Gründe, von denen zwei eher seltener
beachtet werden. Auf sie gilt es zu blicken, da sich die Ereignisse jener Woche
in die neue Normalität der Republik einzuschreiben beginnen: Das sind die
Avantgardewirkung der Medienblase des Rechtskonservatismus und die
Vorbildfunktion des Neuen Präsidentialismus, wie er auch von der politischen
Konkurrenz betrieben wird.
Die Medienwelt des deutschen Trumpismus
In der Theorie kollektiven Handelns gehört es zu den
kontraintuitiven Gemeinplätzen, dass kleine Gruppen den größeren mitunter
überlegen sind. Es liegt an ihrer Fähigkeit, ein Ziel zu formulieren. Dann
wedelt gewissermaßen der Schwanz mit dem Hund. Das milliardärsfinanzierte Start-up des Ex–Chefredakteurs Julian Reichelt ist ein
Beispiel für diesen Effekt. Ganz offen und hinreichend niveaulos wird dort
gegen den angeblichen woken Mainstream gehetzt und für eine Koalition zwischen
Union und AfD geworben. Merz oder die FDP galten in diesen Kreisen eigentlich
als opportunistische Leichtgewichte. Noch am 15. November kritisierte Reichelt
scharf Merz‘ damalige Absage an „Zufallsmehrheiten“ mit der AfD: „Die Botschaft
könnte klarer kaum sein: Was Friedrich Merz nicht will, steht über dem, was die
Mehrheit der Deutschen will. Was richtig ist, ist falsch, wenn die Falschen es
auch richtig finden.“ Am Ende der vergangenen Woche war es dann Merz selbst,
der im sagte: „Es wird nicht falsch, nur weil es die
Falschen für richtig halten.“
Merz‘ so dokumentiertes Einknicken vor Reichelts Agenda, das
durchaus der eigenen Überzeugung entgegenkommen mag, deutete sich lange an.
Statt die antiwoke Krawall-Szenerie zu meiden, versuchen ihm nahestehende
Politiker wie Carsten Linnemann, Jens Spahn oder Alexander Dobrindt schon seit
geraumer Zeit, die Welle zu reiten. Sie gaben und geben
ausführliche Interviews. Reichelt selbst wiederum hat auch die Konkurrenz aus
dem Springer-Verlag im Blick. Der alte Arbeitgeber soll sich in die eigene,
Orbán-, Trump- und Musk-hörige Richtung entwickeln. Deshalb kommt es dann auch
zu dosiertem Lob, vor allem in Bezug auf den -Herausgeber Ulf
Poschardt. Dessen Buch wird von Reichelt in seinen
Sendungen am 16. und 20. Januar geradezu überschwänglich beworben, denn dort
werde der „sagenhafte Aufstieg dieser niederträchtigen grünen Bewegung“
erklärt.
Poschardt wiederum möchte der Radikalität des neuen
Konkurrenten im Feld nicht nachstehen und schreibt entsprechende Stücke, um den
Furor in die eigenen, pluralistisch strukturierten Redaktionsräume zu leiten.
Der Konservatismus, eine genuin revolutionsfeindliche Denkrichtung, die
gegenüber plebiszitären Aufwallungen traditionell kritisch und traditionell
staatsbejahend ist, gibt sich bei Poschardt ultraindividualistisch, libertär
und als Verfechter einer dezisionistischen Identitätsfiktion. Trump bescheinigte
er am 21. Januar „eine Entschiedenheit in der Umsetzung des Wählerwillens, von
der wir nur träumen können“. Und der gewaltenteilige Kompromiss wird bei
Poschardt zu einer „Verwässerung durch das, was er [Trump] in Washington den
Deep State nennt.“ Schon Fraenkel konstatierte eine „jedem plebiszitären System
immanente Tendenz zur zäsaristischen Diktatur“. Argumentativ bewegt sich
Poschardt genau auf dieser Rasierklinge.