Des is a Katastrophe

Klagenfurt, das ist unter Menschen, die sich im
Literaturbetrieb tummeln, ein Synonym für den Check-up der hiesigen Gegenwartsliteratur.
Hier, nahe der österreichisch-slowenischen Grenze, finden die Tage der deutschsprachigen
Literatur statt, dieses Jahr zum 49. Mal: vierzehn Autorinnen und Autoren, sieben
Jurymitglieder, vier Preise (plus einem neuen Stipendium), drei Tage des Vorlesens, Diskutierens und
obligatorischen Klagens über die Hitze. Die hing in diesem Jahr offenbar derart über Klagenfurt, dass man froh war, das Wettlesen aus kühler Berliner Distanz in der
3sat-Mediathek zu verfolgen.

Möchte man der
deutschsprachigen Literatur auf Basis des diesjährigen Wettbewerbs nun eine Diagnose stellen, würde die lauten: Die Patientin leidet unter Wiederholungszwang. Österreichische
Avantgardelautmalerei wie bei Max Höfler, ein Brief an den Vater wie der von Fatima Khan, Popliteratur, bestehend aus Oberflächenbeschreibungen wie bei Josefine Rieks:
Viele der vorgetragenen Texte bedienten Formen und Sujets, die derart vertraut
scheinen, dass das Adjektiv „konventionell“ auch eines der meistgebrauchten in der
Jurydiskussion war. 

Nun ist das Gejammer über die
Konventionalität deutschsprachiger Gegenwartsliteratur ungefähr so geläufig wie sommerliche Temperaturen im Juni. Dass sich die Tage der deutschsprachigen Literatur
nach einem überwiegend blassen ersten Wettbewerbstag doch noch zu einer
Veranstaltung entwickelten, für die man gern vorm Bildschirm saß,
war wenigen herausstechenden Texten zu verdanken.  der Österreicherin Natascha Gangl war einer davon, er gewann die wichtigste Auszeichnung des Wettbewerbs, den mit
25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis.

ist ein
sperriger Text, den man besser hört als liest, vor allem wenn man des steierischen
Dialekts nicht mächtig ist. Sein Fokus erschließt sich erst allmählich: Der  meint weder einen Vogel noch einen Rockstar, wie Juror Thomas Strässle in der Diskussion
festhielt, sondern einen Stein, eine Gedenkstelle, irgendwo in einer
mitteleuropäischen Grenzregion. Die Erzählerin begibt sich mit einem
Aufnahmegerät auf die Suche nach den Verbrechen, die in dieser Landschaft einst verübt wurden. Juden wurden hier von Nazis erschossen, erfährt sie von ihrem Interviewpartner,
der für jedes der 48 Opfer einen kleinen und für sie alle einen großen
„hingfiaht, aufgstöllt, einzementiert“ hat.

Gangl findet eine originelle poetische
Form, vom Grauen der Naziverbrechen zu erzählen. Das Massaker erschließt sich
in Mundart: „WE–IN–IA-IUDN, GO?“, fragt jemand die Erzählerin. Und später
jemand anders: „WEIN-INA-IUSDN-O?“ Übersetzt: Wegen der Juden da? Wen
interviewst‘ denn da? Die Jury lobte diese Sprachspielhaftigkeit, auch wenn man
Nerven bewahren müsse und der Sinn sich nicht immer erschließe. Dass ein Text neben dem Haupt- auch den Publikumspreis in Klagenfurt gewinnt, ist nicht
nur außergewöhnlich, sondern war bei einem derart schwer zu erschließenden wie dem von Gangl auch
überraschend.

Das herbeigesehnte Andere

Weniger überraschend ging der Deutschlandfunk-Preis, aufgrund der Dotierung mit 12.500 Euro quasi Platz zwei des Wettbewerbs,
an den russischstämmigen Berliner Autor Boris Schumatsky, den einzigen Mann neben den sonst ausschließlich Gewinnerinnen.
lautet der Titel seines Texts, der beispielhaft den Möglichkeitsraum zeigt,
den Literatur zu entfalten vermag. „Statt zu schreiben, könnte ich fliegen“, so
führt der Erzähler in sein Dilemma ein: Während er mit seiner Entscheidung für
ein Leben im Berliner Exil hadert, imaginiert er sich auf eine Reise nach Moskau, wo
seine alte Mutter allein ihren Alltag bestreitet; imaginiert den Flug, das tödliche
Pentobarbital, das er im Falle einer Festnahme am Flughafen zu schlucken bereit
wäre.

Während das herbeigesehnte
Andere meist in der Vorstellung von Freiheit besteht, hatte Jurorin Brigitte Schwens-Harrant
in der Jurydiskussion bemerkt, sei es bei Schumatsky andersherum: Der Erzähler erträumt
ein Leben in Unfreiheit, aber bei der Mutter. So ist es wohl auch kein Zufall,
dass er Heinrich Heine zitiert. Doch Schumatskys Text ist mehr als eine
Erzählung über die Zerrissenheit des Exilanten, sie ist auch eine Reflexion über Sprache und ihre Vereinnahmung durch autokratische Systeme. ,
das heißt wörtlich übersetzt „Einschreiben“, in Putins Russland heißt es „Verprügeln“.
Die Korrumpierung der Sprache stünde immer am Anfang, sagte Philipp Tingler
in seiner Laudatio auf Schumatsky.

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