„Der Winter ist da. Die Menschen brauchen mehr als nur zu essen“

DIE ZEIT: Frau Spoljaric, global betrachtet gibt es rund 130
bewaffnete Konflikte, so viele wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Wie
erklären Sie sich das?

Mirjana Spoljaric: Heute gibt es mehr internationale bewaffnete Konflikte, die
mit sehr vielen Ressourcen geführt werden – mit Kriegsmaterial, Kämpfern,
logistischer Unterstützung und finanziellen Mitteln von Drittstaaten. Ein
Beispiel: Im Krieg zwischen der Ukraine und Russland zählen wir derzeit rund
170.000 Vermisste. Das sind aus unserer Sicht Zermürbungskriege mit einer hohen Zahl ziviler Opfer. Ähnliches sehen wir in
Gaza oder im Sudan. Das liegt auch an einer zunehmenden Aushöhlung des Rechts
in bewaffneten Konflikten. Das Recht wird gebrochen, aber auch
instrumentalisiert, um militärische Ziele zu verfolgen. Das muss aufhören.

ZEIT: Warum hat das humanitäre Völkerrecht heute so einen
schweren Stand?  

Spoljaric: Lassen Sie es mich so ausdrücken: Es ist eine
Anhäufung von zu viel Toleranz. Wir sind abgestumpft, was menschliches Leid
betrifft. Wir sehen die Bilder in Gaza. Wir sehen die Bilder im Sudan. Und
trotzdem passiert zu wenig, um dem Leid Einhalt zu gebieten. Natürlich ist jede
bewaffnete Gruppe an das humanitäre Völkerrecht gebunden, aber die
Hauptverantwortung liegt bei den Staaten. Sie müssen mehr dafür tun, dass
dieser gefährliche Trend von immer mehr bewaffneten Konflikten rückgängig gemacht
wird. Die Staaten haben nicht nur die Pflicht, sich selbst ans Völkerrecht zu halten,
sondern auch sicherzustellen, dass das Völkerrecht eingehalten wird und keine Kriegsverbrechen geschehen.

ZEIT: Zuletzt wurden die Nothelfer selbst Opfer
gezielter Angriffe. Auch die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (darunter das
IKRK) hat in den vergangenen zwei Jahren mehr Mitarbeitende verloren als in den
zehn Jahren davor: 63 Mitarbeitende wurden 2024 und 2025 bei Einsätzen getötet.
Wie wägen Sie unter diesen Umständen die Risiken für Ihre Leute ab?

Spoljaric: Angriffe auf humanitäre Helfer sind
eine klare Verletzung des humanitären Völkerrechts und dürfen nicht toleriert
werden. Wir passen natürlich unsere Sicherheitsmaßnahmen an und ziehen uns aus
Gebieten zurück, wenn es zu gefährlich ist. Leider. Die Verringerung der Mittel
für die humanitäre Hilfe führt außerdem zu weniger Präsenz im Feld. Das macht die
Einsätze für unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen noch gefährlicher. Hinzu kommen neue Technologien, die das Risiko zusätzlich erhöhen.  

ZEIT: Mit neuen Technologien meinen Sie zum Beispiel den
Einsatz von Drohnen?

Spoljaric: Es geht vor allem um Drohnen, aber auch um
künstliche Intelligenz, um Cyberoperationen. Hinzu kommt das ganze Problem der
Desinformation. Jedes Mal, wenn Hasskampagnen gegen humanitäre Helfer oder
Organisationen lanciert werden, erhöht das die Unsicherheit der Mitarbeiter.
Ich habe das selbst erlebt in verschiedenen Kontexten, in denen ich direkt bedroht
wurde und erfahren habe, wie es meinem Kollegen und Kolleginnen im Feld ergeht.

ZEIT: Wie gehen Sie damit um?

Spoljaric: Wir investieren zum einen in Sicherheit und
wollen die Risiken so weit wie möglich minimieren. Und wir setzen uns politisch
und diplomatisch dafür ein, dass mehr getan wird, um humanitäre Organisationen
zu schützen. Es braucht auch mehr Kommunikation, um zu erklären, warum diese
neutrale, unparteiische Hilfe nötig ist. Weil Staaten im Krieg nie neutral
sind. Deswegen haben sie ja über die Genfer Konvention das IKRK geschaffen:
damit wir als neutraler Mittler agieren können. Nehmen Sie unsere Operationen
in Gaza, die Rückführung von Geiseln und Tausenden Gefangenen. So etwas
bedarf des Vertrauens aller Parteien, und es bedarf der Expertise.  

ZEIT: Wie muss man sich eine solche Geiselübergabe
vorstellen? Was passiert im Hintergrund, wie stellen Sie sicher, dass alles
funktioniert?

Spoljaric: Das sind hochkomplexe, gefährliche Operationen.
Damit niemand dabei zu Schaden kam, haben wir Ärzte und Ärztinnen, Haftanstalt-
und Minenexperten aus der ganzen Welt eingeflogen. Es braucht fein abgestimmte
Sicherheitsgarantien, es braucht Kommunikationsmittel, Transportmittel.
Tausende Gefangene müssen registriert und interviewt werden. All das
erfordert Wissen und über Jahrzehnte aufgebautes Vertrauen zwischen dem IKRK
und den betreffenden Kriegsparteien. Vertrauen in unsere absolute Neutralität,
Diskretion und Unparteilichkeit. Wir stellen uns immer auf die Seite der
Personen, die wir mit ihren Familien vereinen müssen. Wir nehmen dafür vieles
in Kauf. Und natürlich sprechen wir auch mit den Parteien darüber, was eine
würdevolle Behandlung ist.

ZEIT: Eine oft gehörte Kritik am IKRK lautet, dass es auch
angesichts massiver Menschen- und Völkerrechtsverletzungen auf Neutralität beharre und zu wenig Stellung beziehe. Zum Krieg in Gaza haben Sie
sich Ende September ungewöhnlich deutlich geäußert: „Was wir heute in Gaza
sehen, lässt sich nicht rechtlich, nicht moralisch und auch nicht militärisch
rechtfertigen.“ Was hat Sie dazu bewogen?

Spoljaric: Alles, was wir sagen, ist überlegt und abgewogen.
Wir tun das nicht leichtfertig. Ich spreche im Namen der Organisation. Wir
haben Hunderte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Gaza. Wir haben
Kolleginnen und Kollegen verloren. Wir müssen Dinge ansprechen, damit die Welt
sich bewusst wird, dass es Grenzen gibt, wenn es darum geht, menschliches Leid
zuzufügen. Wenn es darum geht, Menschen in ihrer Menschenwürde zu entblößen.
Wenn man diese Dinge zu lange toleriert, muss man damit rechnen, dass der
nächste Konflikt noch brutaler sein wird. Dass der nächste Konflikt unsere
Möglichkeit, Hilfe zu leisten, übersteigen wird. Jede Aushöhlung des
humanitären Völkerrechts wird im nächsten Konflikt widergespiegelt.  

ZEIT: Zeigt das nicht, dass Ihre Neutralität an Grenzen
stößt? Weil die Verstöße so eklatant sind, dass Sie sich positionieren müssen?
 

Spoljaric: Ich rufe alle Parteien dazu auf, sich an das
humanitäre Völkerrecht zu halten. Zivilisten und zivile Infrastruktur zu
schützen und Gefangene human zu behandeln, das sind rechtliche Pflichten, an
die sowohl Staaten als auch nicht staatliche Parteien gebunden sind. Wir machen
hier keinen Unterschied, und deswegen bleiben wir in jedem Moment neutral.

ZEIT: Sie sind während des Kriegs mehrmals nach Gaza
gereist. Können Sie beschreiben, was Sie dort erlebt haben?

Spoljaric: Was ich in Gaza gesehen und erlebt habe, sollte
man nicht erleben müssen. Das sollte die Welt, die Staatengemeinschaft nicht
geschehen lassen. An dieser Stelle muss ich betonen, dass ich mich regelmäßig
auch mit den Familien der Geiseln getroffen habe …

ZEIT: … der israelischen Geiseln der Hamas …

Spoljaric: … und nachvollziehen kann, welches Leid auch sie
durchgemacht haben. Ich habe mit Kindern in Gaza gesprochen, die mir gesagt
haben, dass sie Angst haben. Die mich gefragt haben, wann sie wieder zur Schule
gehen können. Es ist schwierig, in solchen Momenten keine Empathie zu
empfinden. Und ich appelliere an Politiker und Staatsführer, empathischer zu
werden, sich bewusst zu werden: Wenn man Menschen solchem Leid aussetzt, nimmt
man automatisch in Kauf, dass man sich früher oder später selbst in dieser Lage
befinden könnte.

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