Der wahre Superwessi

Vielleicht kennen Sie Martin Gross. So unwahrscheinlich ist das ja gar nicht bei diesem Namen, irgendeinen kennen Sie bestimmt. Aber Martin Gross, der Schriftsteller, sagt der Ihnen etwas? Der westdeutsche Autor, der Anfang 1990 in den Osten zog, um chronistenmäßig  zu schreiben?

Sie sollten ihn kennen. Alle sollten ihn kennen. Sein Buch muss dringend in den sogenannten Literaturkanon eingehen. Man muss ihn lesen, am besten heute am Tag der Deutschen Einheit, wenn es – wie immer – heißt, dass schon viel erreicht und trotzdem noch einiges zu tun sei. 

„Orr nee“, ausgerechnet ein Westdeutscher soll Aufmerksamkeit und Anerkennung kriegen für das, was er mal über den Osten gedacht hat? Und muss man sich wirklich noch mit diesem Jahr auseinandersetzen?

Ja. Weil Gross die Westklischees über den Osten schon wenige Monate nach dem Mauerfall befremden. Weil er weder arrogant noch ignorant auftritt, sondern einfach interessiert. Weil er die Leute im Osten nicht betüdelt. Und weil er prophetisch unterwegs ist in diesem Buch, sodass man heute, 35 Jahre später, sehr viel zu verstehen meint, wenn man es liest. Gross im Jahr 1990, in diesem Epochenscharnier, das ist ein hellsichtiger, selbstkritischer Superwessi. So was gab es auch, damals, als es neu losging in Deutschland. 

Sein Vorhaben war ein simples und nicht sonderlich originelles: Nach dem Mauerfall vom Westen in den Osten ziehen, um ein, wie er es schön bezeichnete, „ungültiges“ Land und dessen Leute zu beobachten. Er schrieb Reportagen und Tagebuch. Aus diesen Notizen sollte später das Buch entstehen. 

Mit seiner Idee war er – der 1952 geboren wurde, in Böblingen aufwuchs und dann in Westberlin lebte – bei Weitem nicht allein. Das stellte er natürlich selbst fest, nach nur wenigen Tagen. „Im Osten der Zusammenbruch, im Westen der Aufbruch“, notiert er am 8. Januar. Das gelte nicht nur für Bauunternehmer und Bankiers, sondern auch für Journalisten. 

Gross fremdelt damals. Mit dem Osten, mit dem Westen, mit Deutschland halt. Am meisten aber fremdelt er mit seiner eigenen Rolle und das unterscheidet ihn von vielen seiner Kollegen, die so selbstsicher unterwegs waren, jedenfalls lesen sich ihre Texte heute so. Safari-Journalismus nennt man diese Gattung von Texten, in der sich mutige Westreporter auf den Weg ins unbekannte Land machen. Man hört das heute im Osten immer wieder: Die kenntnisarmen Fremdbeschreibungen der frühen Neunziger hätten einiges kaputt gemacht, was das Vertrauen in die Medien anbelangt. 

Auch Gross trifft damals den falschen Ton, also einen anderen als den erwarteten. Manchmal lakonisch, immer ironisch. Er reflektiert darüber, wie sinnhaft beziehungsweise sinnlos es ist, aus jedem kleinen Detail die große Bedeutung zu ziehen. Wenn er am 27. Januar einen müden, gebremsten, verhalten wirkenden Menschen durch die Gegend laufen sieht, ist das dann ein Symptom der jahrzehntelangen Unterdrückung? „Wie einfallslos“, schreibt Gross über diesen Gedanken, den er somit verwirft. Es ist der Beginn eines offenen Beobachtens, des großen Nachdenkens. Bald sagt ihm ein westdeutscher Rundfunksender die Veröffentlichung einer eigentlich abgesprochenen Reportage ab. Er notiert, „das Thema DDR“ erzeuge nur noch gelangweilte Gesichter. Offenbar wolle schon jetzt niemand mehr etwas davon hören. 

Na ja, ganz so war es ja nicht, es ist doch einiges erschienen aus diesem Land im Zwischenzustand. Vielleicht, auf diesen Gedanken kann man heute kommen, war Gross eher ein bisschen zu schnell für seine Zeit. Vielleicht stießen seine Beobachtungen im Westen auf wenig Interesse, weil sie zu sehr abwichen von der geltenden Erzählung, weil sie zu ambivalent waren, zu komplex, zu kritisch auch mit sich selbst. 

Mehr lesen
by Author
Man malt sich schon wieder den Charakter des nächsten Migrationsstreits aus: schematisch,…