Für den Bundeskanzler gibt es keinen Zweifel: „Uns könnte eine große Wachstums- und Investitionsphase bevorstehen, wie wir sie aus den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts kennen“, sagte Olaf Scholz (SPD) vergangenes Jahr in einem Interview. Von einem Wirtschaftswunder ausgelöst durch die grüne Transformation, hatte der Kanzler gesprochen. Genau so könnte es kommen – allerdings nicht bei uns, sondern im Nordosten Brasiliens.
Das Energie-Portal „Clickpetroleoegas” brachte vor wenigen Tagen eine geradezu euphorische Zukunftsprognose: Der Teil des Landes könne „die wichtigste Region der Welt“ werden. Grund seien angekündigte Investitionen in Höhe von 120 Milliarden Real (umgerechnet etwa 19 Milliarden Euro) in die Produktion von grünem Wasserstoff.
Versehen ist der Beitrag mit einer Illustration, die blühende Industrielandschaften zeigt, angetrieben von klimafreundlichen Wasserstoff-Kraftwerken und Windrädern. Der Nordosten könnte zu einer „Weltmacht bei der Herstellung dieses innovativen Kraftstoffs“ werden, schreibt der brasilianische Journalist Valdemar Medeiros.
Wie viel von dieser Prognose ein kühner Traum bleibt und was tatsächlich realistisch ist, wird die Zukunft zeigen. Immerhin ist es eine Zukunftsvision, die greif- und vorstellbar ist. Und die Hoffnungen auf eine bessere Perspektive weckt.
Ein wenig erinnern die Rahmenbedingungen an den Aufstieg des Ruhrgebietes zu einem der wichtigsten Industriezentren der Welt. Die Nähe zum Energieträger Kohle war damals der Schlüssel, es siedelten sich Industriebetriebe an, zahlreiche Arbeitsplätze wurden geschaffen.
Die industrielle Herzkammer des Landes entstand, ein Wirtschaftswunder begann. Im Brasiliens strukturschwachen Nordosten ist die Hoffnung auf eine ähnliche Entwicklung groß. Industriebetriebe suchen in der Regel immer die Nähe zu günstigen und zuverlässigen Energieträgern in der Umgebung. Statt Stahl mit importiertem grünem Wasserstoff in Europa zu produzieren, könnte er so gleich an der Quelle entstehen. Das gilt auch für die Autoindustrie und weitere energieintensive Branchen.
„Exzellente Entwicklungsmöglichkeiten“
„Die weltweite steigende Nachfrage für grünen Wasserstoff und seine Derivate Ammoniak und Methanol bedeuten für den Nordosten Brasiliens exzellente sozial-ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten“, sagt Ansgar Pinkowski (56) im Gespräch mit WELT. Er ist Gründer der Agentur „Neue Wege“ in Rio de Janeiro, die sich auf die Beratung und Vermittlung von Energiewende-Themen zwischen Brasilien und Europa spezialisiert hat.
Pinkowski sieht durchaus realistische Chancen für eine Industrialisierung der Region: „Durch die relativ schwierige Logistik von Wasserstoff werden sich neue Industrien dort ansiedeln, um ihren CO₂-Abdruck zu verringern“, sagt er. Eine dieser Optionen sei neben der Erzeugung von grünem Wasserstoff auch die Ansiedlung von Datencentern, die den immer stärker werdenden Energiebedarf durch Wind- und Solarenergie decken wollen. Auch die Möglichkeiten für den Export von Derivaten und PtX-Produkten, also CO₂-freien Alternativstoffen zu den derzeitigen Energiequellen wie Öl und Gas, würden diese Standorte anbieten.
Schon jetzt ist eine Anziehungskraft hinsichtlich Investitionen in Richtung Brasilien zu erkennen. Die „Agentur für Industrienachrichten“ berichtete jüngst, dass für grüne Wasserstoffprojekte Investitionen in Höhe von mehr als 188 Milliarden Real (31 Milliarden Euro) geplant seien.
Der Nordosten Brasiliens gilt aufgrund seiner geografischen Gegebenheiten als eine der Regionen in der Welt, in der wohl am günstigsten Strom und damit am Ende auch grüner Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen erzeugt werden kann.
Internationale Investoren haben bereits Projekte in den brasilianischen Bundesstaaten Ceará und Pernambuco ins Visier genommen, für Rio Grande do Norte sind die Investitionen von 120 Milliarden Real (etwa 19 Milliarden Euro) angekündigt. Jene Milliarden, die für die euphorische Prognose des neuen Energiezentrums der Welt gesorgt haben. Die Rede ist von einem Potenzial, das mehr als 30.000 neue Arbeitsplätze schaffen könnte. An dieser Zukunftsperspektive sind deutsche Investoren bislang nicht beteiligt.
Zwischen Investitionsankündigungen und der tatsächlichen Umsetzung vor Ort liegt allerdings noch ein weiter Weg. Nicht immer werden aus großen Investitionsträumen am Ende auch konkrete Projekte. Trotz eines Anstiegs der Investitionsanstrengungen lässt das Tempo und auch die Bewertung des Themas noch Luft nach oben.
Der Direktor der Internationalen Energie-Agentur, Fatih Birol, riet Brasilien deswegen, das Feld Wasserstoff ernster zu nehmen. Wohl auch weil die aktuelle Regierung in Brasilia im Haushaltsplan der Exploration fossiler Brennstoffe eindeutigen Vorrang einräumt, selbst im Amazonas-Mündungsbecken soll Erdöl gefördert werden.
„Brasilien verfügt anerkanntermaßen über eine der saubersten Energiematrizen der Welt, ein wichtiger Wettbewerbsvorteil für die Produktion von nachhaltigem Wasserstoff“, sagt der brasilianische Energie-Experte Thiago Valejo Rodrigues vom Industrieverband Firjan im Gespräch.
„Nicht nur der Nordosten, insbesondere der Bundesstaat Ceará, sondern auch der Südosten, insbesondere Rio de Janeiro, verfügen über eine beträchtliche Anzahl von Projekten in verschiedenen Entwicklungsstadien für die neue Wasserstoffwirtschaft.“
Der Vorteil: Beide Regionen besäßen bereits eine Hafeninfrastruktur und die Kapazität, diese Energie sowohl für den heimischen Markt als auch für den Export, insbesondere für den europäischen Markt, bereitzustellen. Valejos Fazit ist zuversichtlich: „Brasilien hat daher eine echte Chance, eines der wichtigsten Länder bei der Erzeugung sauberer Energie zu bleiben.“
Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.