Der Begriff „Schwarzer Schwan“ bezeichnet ein vorab unvorhersehbares, plötzlich auftretendes Ereignis, das eine bestimmte Lage radikal verändert. In dieser Woche jährte sich zum zweiten Mal ein Ereignis, auf das diese Bezeichnung für wenige Stunden zuzutreffen schien: die Meuterei des russischen Söldnerführers Jewgeni Prigoschin und dessen Wagner-Truppe. Nach fast einem Jahr des Einsatzes in der Ukraine, in dem Prigoschin seine Kämpfer als effektivere Alternative zu schwerfälligen russischen Militärstrukturen inszenierte, überquerten Tausende Söldner die ukrainisch-russische Grenze in Richtung ihrer Heimat. In der Nacht zum 24. Juni 2023 rückten sie im südrussischen Rostow ein, besetzten das dortige Militärhauptquartier – während sich ein anderer Tross in Richtung Moskau aufmachte, um, wie Prigoschin es ausdrückte, „Gerechtigkeit“ herzustellen.
Was kurzzeitig wie der Versuch eines Putsches gegen Wladimir Putin aussah, war keiner. Schon Wochen zuvor war bekannt geworden, dass Russlands Verteidigungsministerium Prigoschin die Kontrolle über seine Truppe nehmen wollte. Der Söldnerführer intensivierte daraufhin seine Kritik an der Militärführung, der er immer wieder Korruption und Verrat vorwarf. Einen Tag vor der Meuterei nahm er ein Video auf, in dem er die (zuvor von seinen eigenen Trollfabriken verbreitete) russische Kriegspropaganda über die Bekämpfung eines angeblichen „Naziregimes“ in der Ukraine demaskierte und den Krieg als Raubzug mit dem Ziel der Bereicherung einer oligarchischen Clique bezeichnete.
Es waren Worte, mit denen sich eine Revolution ankündigen lässt – aus dem Mund eines skrupellosen Mannes, der dafür sowohl die Truppen als auch die Waffen hatte. Doch schon am Abend desselben Tages war die Wagner-Meuterei vorbei. Auf halbem Wege nach Moskau blieb der Tross stehen, nicht ohne zuvor ein russisches Militärflugzeug und mehrere Hubschrauber abgeschossen zu haben. Der Grund: ein vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vermittelter Deal zwischen Prigoschin und der Staatsführung. Der Söldnerführer durfte im Austausch für ein sofortiges Ende seines „Marschs der Gerechtigkeit“ die Kontrolle über seine Truppe behalten, mit ihr nach Belarus gehen und der russischen Strafverfolgung entkommen. Zwei Monate später starb er zusammen mit weiteren Führungspersonen der Wagner-Truppe, darunter deren militärischer Anführer Dmitri Utkin, bei einem Flugzeugabsturz.
Aus dem Fokus der Öffentlichkeit mögen Prigoschin und seine Söldner längst verschwunden sein, doch sie hinterließen Spuren – in Russland wie auch in der Ukraine. So habe die Taktik der Wagner-Truppen bei der Eroberung der Stadt Bachmut in einer der längsten und härtesten Schlachten des Krieges nachhaltig die Kampfmethoden in dem Krieg geprägt, sagt der Militärexperte Dmitri Kusnez vom exilrussischen Medium . In Bachmut hatte Prigoschin seine Söldner in kleinen Gruppen von wenigen Mann, jeweils begleitet von einer Überwachungsdrohne, in den Kampf geschickt. Es war ein Bruch mit der zuvor dominierenden russischen Taktik großer mechanisierter Angriffe in Bataillonsgröße, die aber häufig der ukrainischen Artillerie zum Opfer fielen.
Unter den Bedingungen eines von gegnerischen Drohnen permanent überwachten Schlachtfeldes habe sich der Einsatz vieler kleiner Gruppen als erfolgreicher erwiesen, sagt Kusnez. Ein weiterer Vorteil der Taktik: Die „Fernsteuerung“ per Drohne verbessere die Erfolgsaussichten schlecht ausgebildeter Rekruten, die sich ohne exakte Anweisungen erfahrenerer Kommandeure nicht taktisch sinnvoll zu bewegen wüssten. Ein Vorteil für eine Armee, der es nicht an Quantität, aber an Qualität mangele. Auch die Ukraine setze inzwischen häufiger auf Angriffe durch kleinere Gruppen und habe die Wagner-Taktik damit ebenfalls übernommen – wenngleich dies nur selten zu beobachten sei, da sich die ukrainische Armee auf fast allen Frontabschnitten in der Defensive befinde.
Auch bei der Rekrutierung der Soldaten setzte die Wagner-Gruppe Maßstäbe. Denn Prigoschin war es, der die Anwerbung von Häftlingen direkt aus russischen Gefängnissen heraus, die er häufig persönlich besuchte, normalisierte. Durch die Anwerbung der Häftlinge ließ der Söldnerführer sein Heer innerhalb weniger Monate von wenigen Tausend auf mehr als 50.000 Mann anschwellen. Den so angeworbenen Soldaten versprach er mit inoffizieller Rückendeckung Putins Straffreiheit, sollten sie einen sechsmonatigen Einsatz in der Ukraine überleben.
Inzwischen hat Russland die Anwerbepraxis längst legalisiert, die Sträflinge werden nun direkt vom Militär rekrutiert. Anfang 2025 saßen Berichten zufolge kaum mehr als 300.000 Häftlinge in russischen Gefängnissen ein, 120.000 weniger als zwei Jahre zuvor. Aus einer vom Exilmedium und der britischen BBC erstellten Zählung bestätigter Todesfälle russischer Soldaten geht hervor: Etwa jeder Sechste war ein Häftling. Rechnet man das auf die Gesamtzahl der russischen Truppen in der Ukraine hoch, dürften an die 100.000 Soldaten aus dem Gefängnis heraus rekrutiert worden sein. Ein nicht unwesentlicher Unterschied gegenüber der Rekrutierung durch Wagner: Inzwischen wird den Gefangenen Straffreiheit nicht nach einem sechsmonatigen Kriegseinsatz versprochen, sondern erst nach dem Ende der Kampfhandlungen. In vielen Fällen bedeutet das: nie. Anders als Prigoschin dürfte der russische Staat kein Interesse an einer allzu baldigen Rückkehr von Straftätern mit Kriegserfahrung in die russische Gesellschaft haben. Häftlinge kämpfen inzwischen auch in der ukrainischen Armee, wenngleich die Auswahlkriterien dort strenger sind als in Russland und der Anwerbeprozess unter richterlicher Aufsicht steht.
Das Erbe der ehemaligen Wagner-Truppe wirkt zudem weit über die Ukraine hinaus. Vor der russischen Invasion waren die Wagner-Söldner vor allem für Einsätze in Afrika bekannt, wo sie mehrere prorussische Juntas bei der Absicherung ihrer Herrschaft unterstützten, beispielsweise in Mali. Sie sicherten Russland damit den Zugang zu Rohstoffen. Wie ein Recherchenetzwerk erst vor wenigen Wochen berichtete, legen Ermittlungen nahe, dass die Söldner auch dort schwere Kriegsverbrechen begangen haben, etwa Entführungen und Folter an Hunderten Menschen. Inzwischen wurden die Vorwürfe laut der Nachrichtenagentur Associated Press dem Internationalen Strafgerichtshof zur Untersuchung vorgelegt.
Was seinerzeit die Wagner-Meuterei in Russland ausgelöst hatte – die Herstellung einer direkten Regierungskontrolle über die Söldner – wiederholt sich nun in Afrika: Dort sollen die Söldner, die Mali Anfang des Monats angeblich verließen, in Wirklichkeit in das sogenannte russische Afrikakorps integriert worden sein. Das berichteten Diplomaten aus Staaten der Sahelregion. Malis Regierung hatte ohnehin nie offiziell von einer Partnerschaft mit Wagner gesprochen, sondern von „russischen Ausbildern“, mit denen die Zusammenarbeit fortgesetzt werde. Der Präsident des afrikanischen Landes besuchte erst vor wenigen Tagen Putin in Moskau.
Am meisten dürften Prigoschin und seine Söldner aber womöglich nicht auf materieller, sondern auf psychologischer Ebene nachwirken. Als eine „Kehrtwende, die nicht passiert ist“, beschrieb etwa ein von der befragter Offizier und Zeuge der Wagner-Meuterei den als Putschversuch missverstandenen Aufstand Prigoschins gegen Russlands Militärführung. Der Söldnerchef hatte nicht nur Putins Sicherheitsapparat vorgeführt, der dem Tross nach Moskau nichts entgegensetzen konnte, sondern auch die Passivität vieler Sicherheitsorgane in einer Situation, die das Regime unmittelbar zu bedrohen schien, offengelegt. Die Ereignisse dieses Tages hatten die scheinbar unanfechtbare Stabilität des Regimes schwer in Zweifel gezogen.
Bestand hatten diese Zweifel jedoch nicht. Auch zwei Jahre nach der Wagner-Meuterei hat niemand mehr Putins Herrschaft auf eine solche Weise infrage gestellt. Nicht mal Prigoschin selbst hatte das getan, diente sein Marsch auf Moskau doch nicht einem Regimewechsel, sondern dem verzweifelten Versuch, die Übernahme seiner Truppe durch das Verteidigungsministerium zu verhindern. Die Wahrnehmung, wonach an diesem Tag ein „Bürgerkrieg“ in Russland hätte beginnen können – wie es Putin selbst ausdrückte – und die Invasion der Ukraine damit ihr Ende gefunden hätte, geht ins Leere. Sie ist im Nachhinein nichts anderem geschuldet als der Hoffnung auf ein überraschendes, schnelles Ereignis, das den Krieg einem Wunder gleich beendet. Einem schnellen Ausweg aus einer seit Jahren ausweglos scheinenden Situation, einem Schwarzen Schwan.
Prigoschins Marsch auf Moskau war, wie sich schon kurz nach dessen Beginn herausstellte, kein solches Ereignis. Doch die Hoffnung darauf war so groß, dass es bis heute als solches verklärt wird. Denn nichts, was in diesem Krieg davor oder seitdem passiert ist, kam dem derartig nah.
Die Zitate: Was Trump für möglich hält
Die Erhöhung des Nato-Ausgabenziels auf 3,5 Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben ist nicht nur von einer entsprechenden Forderung von US-Präsident Donald Trump motiviert, sondern auch durch die Befürchtung mehrerer vor allem an der Ostflanke der Nato gelegener Länder, in Zukunft Ziel eines russischen Angriffs sein zu können. Die Frage, ob er entsprechende Ambitionen Putins für realistisch und den russischen Präsidenten für eine Bedrohung halte, beantwortete Trump beim Nato-Gipfel zweigeteilt:
Mit seiner Antwort bezog sich Trump auch auf eine Einschätzung von Dan Caine, dem von ihm eingesetzten Chef des Generalstabs der US-Streitkräfte. Mitte Juni hatte dieser in einer Befragung durch den Senat eine Frage danach, ob sich Putin nach seiner Einschätzung mit Eroberungen allein in der Ukraine zufriedengeben würde, mit dem Satz beantwortet: „Ich glaube nicht.“
Der russische Präsident spielt seinerseits mehr als eindeutig mit einer Rhetorik der Eskalation. Russen und Ukrainer seien nach seiner Wahrnehmung „ein Volk“, sagte er am vergangenen Freitag auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg – demnach gehöre die ganze Ukraine ohnehin Russland. Diese Aussage ergänzte er um eine weitere:
Die wichtigsten Meldungen: Angriffe auf Zivilisten und Patt in Sumy
Angriffe auf Zivilisten: In der südostukrainischen Großstadt Dnipro sind bei einem russischen Raketenangriff am Dienstag 21 Menschen getötet und mehr als 340 verletzt worden. Unter ihnen waren nach Angaben des Gouverneurs der Region Dnipropetrowsk, Serhij Lyssak, 38 Kinder. Der Angriff traf unter anderem einen Passagierzug.
Zu zahlreichen Toten und Verletzten war es bereits einen Tag zuvor in Kyjiw gekommen: In der ukrainischen Hauptstadt wurden neun Menschen bei Luftangriffen getötet und 25 verletzt. Bereits vergangene Woche erlebte Kyjiw mit 28 Toten und 142 Verletzten einen der tödlichsten Luftangriffe seit Kriegsbeginn.
In den vergangenen Monaten hat Russland den Einsatz von Drohnen bei seinen Luftangriffen gesteigert. Zudem setzt die russische Luftwaffe nach ukrainischen Angaben graduell weniger Marschflugkörper und mehr ballistische Raketen ein, die deutlich schwerer abzuwehren sind.
Die Intensivierung der Angriffe führte nach UN-Angaben zu mehr zivilen Opfern: In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sei die Zahl getöteter Zivilisten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um mehr als die Hälfte gestiegen, teilte die UN-Beobachtungsmission in der Ukraine mit.
Offensive in Sumy: Knapp einen Monat nach dem Einmarsch russischer Truppen in die nordostukrainische Region Sumy hat sich der Frontverlauf in dem Gebiet stabilisiert. Russland kontrolliert dort nach Angaben des Institute for the Study of War (ISW) und ukrainischer Kartendienste ein Gebiet von etwa 200 Quadratkilometern. Die Offensive begann parallel zu Äußerungen Putins, wonach er in der Region, von der aus die Ukraine im vergangenen Sommer ins russische Grenzgebiet Kursk einmarschiert war, eine „Pufferzone“ einrichten wolle.
Am Donnerstag erklärte der ukrainische Militärchef Oleksandr Syrskyj den Vormarsch Russlands in Sumy für gestoppt. Die ukrainische Beobachtungsgruppe DeepState, die dem Militär des Landes nahesteht, berichtete in den Tagen zuvor gar von erfolgreichen Gegenangriffen: So soll das Dorf Andrijiwka am Wochenende zurückerobert worden sein. Das ISW sah das Dorf in den vergangenen Tagen wechselnd unter ukrainischer oder russischer Kontrolle.
Die Gruppe veröffentlichte allerdings Fotos von schlecht ausgebauten Verteidigungsanlagen, die wenige Kilometer östlich des Dorfs aufgenommen worden sein sollen. Der Ausbau von Schutzanlagen wird in der Ukraine immer wieder dafür kritisiert, nur langsam voranzuschreiten. Zudem kommt es regelmäßig im Zusammenhang mit deren Bau, der oft nicht vom Militär, sondern Subunternehmern vorgenommen wird, zu Korruptionsvorwürfen.
Auch russische Militärblogger berichteten von lokalen Rückzügen ihrer Truppen und erklärten das unter anderem mit dem Einsatz vieler Drohnen durch die ukrainische Armee in Sumy. Der Stopp des russischen Vormarschs in Sumy im Grenzgebiet nach mehreren Wochen erinnert an den Einmarsch Russlands im Norden der Region Charkiw im Mai 2024: Auch damals stoppte das ukrainische Militär Russland nach einem Vormarsch um wenige Kilometer. Eine Befreiung des besetzten Grenzstreifens in Charkiw ist der Ukraine seither aber nicht gelungen.
Waffenlieferungen und Militärhilfen: Abwehrraketen, Drohnen, Küstenschutz
- Großbritannien überlässt der Ukraine 350 Flugabwehrraketen des Typs ASRAAM. Nach britischen und ukrainischen Angaben wird die Lieferung im Wert von 82 Millionen Euro mit Zinsen auf eingefrorenes russisches Vermögen finanziert.
- Die Niederlande liefern der Ukraine100 Radare zur Erkennung von Drohnen und 20 moderne, teils autonom fahrende Fahrzeuge zur Evakuierung von Verwundeten. Weiterhin haben die Niederlande der Ukraine insgesamt 500 Millionen Euro zugesagt, womit die Produktion von 600.000 Drohnen finanziert werden soll.
- Darüber hinaus haben die Niederlande und Belgien der Ukraine ein Minenjagdboot geliefert und die Lieferung eines zweiten angekündigt. Zuvor bildeten die Länder nach Angaben des niederländischen Verteidigungsministeriums die künftige ukrainische Besatzung der Boote aus. Sie sollen zum Schutz der Schwarzmeerküste eingesetzt werden.
Über den Tellerrand: Motorrad-Attacken und Ersatz aus Europa
- Im vergangenen Jahr begann Russland, seine Soldaten auf Motorrädern ins Gefecht zu schicken. Das ukrainische Analystenteam Frontelligence Insight hat die Taktiken der Motorrad-Einheiten erforscht.
- Das Portal hat analysiert, inwiefern es Europa gelungen ist, den Ausfall der USA bei der militärischen Unterstützung der Ukraine auszugleichen – und wie nachhaltig der Ersatz ist.