Der Leichtfüßigste

Ich habe ihn nur im Fernsehen
gesehen. Das ist eine Aussage, die im Fall des ehemaligen Fußballspielers,
Diskothekenbesitzers, Stadionzeitungsmachers, Vereinsmanagers,
Werbeagenturgründers, Sportrechtevermarkters und eben Fernsehfußballexperten Günter Netzer zu exakt einem Siebtel ein falsches „nur“ setzt. Denn Netzer
als Experte im Fernsehen, in der ARD neben Gerhard Delling, das war natürlich
immer wieder ein Ereignis, knapp 14 Jahre lang, von 1997 bis 2010. Man
schaltete die Spielübertragungen der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer im Ersten in dieser Zeit vielleicht nicht nur wegen Experte Netzer und
Moderator Delling ein. Aber die beiden waren über weite Strecken ihres Tuns vor
der Kamera doch das einzig Unterhaltsame im Zusammenhang mit der Nationalmannschaft. Netzer nie im Stadion gesehen zu haben, spielend auf dem Feld: Das geht den meisten so. Umso besser allerdings kann man sich in der Fantasie ausmalen, wie es gewesen sein könnte.

Das Fernsehen leuchtet die Dinge jedenfalls greller aus. Ungefähr die erste Hälfte des
Fernsehwerks des Duos Netzer/Delling fiel in die heute gütig vergessene
Rumpelfußballphase der deutschen Elf, bis Jürgen Klinsmann und vor
allem Joachim Löw die Nationalmannschaft da rausholten. Dass jemand zu diesem fußballerischen Elend um
die Jahrtausendwende herum noch Worte fand, die die spielerische Tristesse
nicht bloß doppelten, war ein Trost. Der deutsche Fußball hat bessere, schönere
Zeiten gesehen, davor und danach, und der große Ästhet Günter Netzer litt
sichtlich an der zwischenzeitlichen Abwesenheit aller Schönheit. Er hat das
Expertentum im deutschen Sportfernsehen nicht erfunden, aber mit seiner Liebe
für Rhetorik (und manchmal vielleicht auch nur mit seiner Liebe für etwas
geschwollenes Reden) zu einer frühen Größe geführt.

Einmal, das ist gerade nicht
vergessen, weil es so brülllustig war, brachten Netzer und Delling im Jahr 2003 nach einem
total trostlosen 0:0 gegen Island den damaligen Bundestrainer Rudi Völler
furchtbar in Rage mit einer harschen Spielanalyse. Beim Nachspielinterview mit
dem ansonsten eher nicht bedauernswerten Waldemar Hartmann – Völler hatte
mitbekommen, was Delling und Netzer gesagt hatten übers Spiel der Deutschen – zeihte er in einer Wutrede gegen die Fußballkommentierung („Scheißdreck“, „Käse“, „Schwachsinn“) Netzers Fußballergeneration des „Standfußballs“. Eine fußballerische Bewertung, die sogar Günter
Netzer über sich selbst als Spieler schon während und nach seiner aktiven Fußballerkarriere verbreitet hat.

Netzer, der bekennend Lauffaule,
hatte jedenfalls in seiner prägenden Zeit als Spieler von Borussia
Mönchengladbach immer jemanden, der für ihn lief, den tapferen Herbert Wimmer.
Der konnte dem Publikum neben Netzer erscheinen wie Sancho Panza neben Don
Quijote, so wie es später manchmal auch Delling neben Netzer tat. Nur dass
Netzer nie ein Ritter von trauriger Gestalt war wie Don Quijote, sondern stets
glänzender; und dass Netzer nie jemandem etwas vorzumachen schien, vor allem nicht
sich selbst. Es schien, als könne sich Netzer die Verehrung seiner Person zwar schon erklären, er war halt echt spitze in so vielen Dingen; und wirklich unliebsam war
ihm die Verehrung augenscheinlich auch nicht. Doch Netzer wirkte stets so, als halte er das
Gewese um ihn im Großen und Ganzen doch für etwas unreifen Quatsch.

Aber über Günter Netzer reden, das heißt,
ihn zu überhöhen, ihn womöglich über das gebotene Maß zu feiern, ihn zu etwas
zu erklären, das er womöglich nie war und laut eigenen Aussagen definitiv nicht
sein wollte: Popstar, Rebell, Diva, Lebemann, blonder Engel, „langes
Arschloch“ (Hennes Weisweiler, bei seiner angeblichen Definition von Abseits: „Abseits ist, wenn das lange Arschloch wieder mal zu spät abgespielt hat“). 

Doch dass sich Netzer auf eine bestimmte Art
besser überhöhen lässt als jeder andere deutsche Fußballer, darin besteht doch
gerade die Freude, die er allen bereitet bis heute. Er war der Mann, der wie
vom Himmel gefallen schien, einer aus der Provinz, der von Anfang an wie ein
Weltmann wirkte, wahnsinnig cooler Typ, gute lange Haare, gute Klamotten, gute
Sportwagen, Ferrari und so. Er war das Gegenteil dessen, was man von einem
deutschen Fußballer erwartete, kein braver Erfüllungsgehilfe seiner Trainer,
kein still im Dienste der Mannschaft schuftender Siegertyp, sondern ein
herrliches Großmaul, jedenfalls auf dem Platz als Spielmacher.

Günter Netzer ist eine
riesige Projektionsfläche. Nicht für die Titelzähler (bei Netzer waren es gar nicht so wenige, auch wenn der des Weltmeisters 1974 nur für knapp 20 Minuten Einsatzzeit war). Netzer lieben wohl vor allem diejenigen, denen Gewinnen nicht alles
ist, jedenfalls dann nicht, wenn es nicht mit Eleganz, Schauwert, Humor, genereller
Interessantheit verbunden ist. Netzer war also wie fürs Feuilleton gemacht. In das
hat ihn und damit den Fußball einst Karl Heinz Bohrer mit der Wendung von „der
Tiefe des Raums
“ geholt, aus der Netzer plötzlich vorgestoßen sei. In
dieser Tiefe stand Netzer gerade nicht herum, jedenfalls in einem bestimmten
Spiel nicht: Netzer habe , schrieb Bohrer, der
damalige Englandkorrespondent und spätere Feuilletonchef der , nach
dem bis heute legendären 3:1-Sieg der deutschen Nationalmannschaft
gegen die englische im Wembley-Stadion 1972. , schrieb
Bohrer, „das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie,
die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, das
ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. ist Wembley.“

Als die Kölner Sporthochschule vor
ein paar Jahren nachmaß
, wie schnell dieses noch heute in der
Originalaufzeichnung
am Bildschirm rasend wirkende 3:1 unter der Führung der
sich mit Vorstößen abwechselnden Günter Netzer und Franz Beckenbauer denn
tatsächlich gewesen ist, kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis: Bei dieser
deutschen Nationalmannschaft lief an diesem einen Tag, in diesem einen Spiel
der Ball ungefähr so schnell, wie er es heutzutage im Profifußball auch nur
selten tut, 2,9 Meter pro Sekunde; die Engländer erreichten in dem Spiel nur
einen Wert von 1,64 Metern pro Sekunde, sie spielten für das Jahr 1972
zeitgemäßen Fußball, die Deutschen hingegen geradezu futuristischen. Die Leute,
die das live im Fernsehen gesehen haben am 29. April 1972, müssen sich die
Augen gerieben haben. So ein Rauf und Runter auf dem Platz hatten sie definitiv
noch nie zuvor gesehen und sollten sie auch später nur noch selten sehen.

Aber dieses EM-Viertelfinale war
dann ja auch schon das größte der lediglich 37 Spiele Günter Netzers im Trikot
der deutschen Nationalmannschaft, er war in Wembley der beste Mann auf dem Platz, der mit
den meisten Ballkontakten und Offensivaktionen. Dieses eine Spiel ist das
fußballerische Hauptwerk Netzers, zu dem ansonsten die vermutlich noch etwas
bekanntere eine Aktion im DFB-Pokalfinale 1973 kommt. 

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