Der Kunstflop des Jahres

Es war dann doch ein wunderbar lauer Abend geworden nach diesem
herbstlichen Pfingstfest. Noch zu fortgeschrittener Stunde machten es sich die
Leute am Berliner Spreeufer bequem, tranken Weißbier und rauchten, wo einst der
Todesstreifen verlaufen war, die Systemgrenze zwischen den Supermächten. Der
Himmel lag milchig blau über dem Regierungsviertel, es wollte nicht dunkel
werden. Und dass hier, am Reichstag, wo ein paar Bauwagen und Schuttmulden
etwas verloren in der politischen Weite standen und die Amseln wirklich ihr
Bestes gaben, die seltsam gedämpfte Stimmung ein wenig aufzuheitern, dass also
hier, am Montagabend um Punkt 21:30 Uhr, ein immerhin mittelgroßes Weltereignis
der Kunst angekündigt war, schienen nur ein paar Eingeweihte zu ahnen.

Am Ende waren wohl vier-, fünfhundert Menschen gekommen, um der Erleuchtung
beizuwohnen. Jenem Moment, in dem der große Christo und sein silbrig verhüllter
Reichstag noch einmal aufleben sollten. So hatte es Vladimir Yavachev, Neffe
des vor fünf Jahren verstorbenen Künstlers, versprochen: Ein „visueller
Orgasmus“ würde es werden, ein lustvolles Beben. Und die Berliner, was soll man
sagen, zeigten sich gut vorbereitet. Manche hatten eine Tupperdose voller Haribo dabei, andere tranken Rotwein aus der Flasche – man versteht sich in
der Hauptstadt auf Lebensart und Lebensgenuss.

Die Sache zog sich dann ein wenig, und während viele Schaulustige noch
versuchten, den Mond zu fotografieren, der sehr rund und sehr orange über der
Szene aufging, hatte sich eine der Amseln hoch oben auf den Kopf einer der
Riesenskulpturen des Reichstags gesetzt, dieses nicht unbedingt heiteren
Bauwerks, das auch an diesem Abend um einen Eindruck maximaler Unverrückbarkeit
bemüht war. Der Vogel sang noch, als schließlich, um 22 Uhr, gerade war es ein
wenig kühl geworden, die große Licht- und Erinnerungsschau an der Westfassade
des Reichstags begann.

30 Jahre ist es her, dass Christo und seine Mitkünstlerin und Ehefrau
Jeanne-Claude antraten
, um hier, im weithin leer geräumten, kriegs- und
nachkriegswunden Niemandsland der Hauptstadt etwas entstehen zu lassen, das
gefeiert, gedeutet, umrätselt werden würde wie kein Kunstwerk zuvor. Mit
größter Akribie und unvorstellbarer Hartnäckigkeit hatten sie die Verhüllung
des Reichstags geplant, fast ein Vierteljahrhundert war darüber vergangen. Und
wer schließlich im Sommer 1995 dabei sein konnte, hat es nicht wieder
vergessen: wie Millionen Menschen herbeiströmten, um zu sehen, dass es nichts
zu sehen gab, nichts vom bulligen Reichstagsgebäude, das Christo so gründlich
umwickelt hatte, dass selbst die Innenhöfe verschwanden. Gerade weil aber
nichts zu sehen war, nur dieses surreale Etwas, von blauen Kordeln
eingeschnürt, weitete sich der Blick. Und die Imagination übernahm in diesen
blendend hellen Wochen die Regie. 

Christo hatte keine Botschaft mitgebracht, er wollte nichts wollen. All
seine Projekte, die Verhüllung eines Flusses, einer Autobahn, einer Brücke,
begriff er allein als sein „Privatvergnügen“, das sagte er in Interviews immer
wieder. Er mache es für sich, nur für sich – und dass andere auch etwas davon
hatten, war bloß ein willkommener Nebeneffekt. 

Politisch waren all seine Projekte dennoch, weil sie nicht einfach
stattfanden, sondern errungen werden mussten. Politisch war auch die Verhüllung
des Reichstags, weil sie den Apparat der Demokratie an seine Grenzen brachte
und wie nebenher das Selbstbild einer Gesellschaft aufscheinen ließ, die
ungemein stolz war auf ihre Liberalität, sich aber mit der eigentlich recht
simplen Idee eines Künstlers ungeheuer schwertat. Unerschrocken kämpfte sich
Christo durch einen Wust aus Vorschriften und Regeln, absolvierte Hunderte
Gespräche, meisterte endlos viele Anträge – denn nicht gegen, sondern nur mit
den politischen Gremien wollte Christo die Verhüllung des Reichstags ins Werk
setzen. Und es gelang ihm am Ende, per Abstimmung im Bundestag, die Kohl-CDU
hatte sich bis zuletzt furchtbar gesträubt.

Was dann kam, war ein Geschenk: Christo, Meister der Unverzagtheit, ließ
den Reichstag, seine bullige Schwere, unter 10.000 Quadratmetern Silberhaut
verschwinden, alles Lastende wurde leicht. Die Stimmung war ausgelassen wie
nie, denn diese Kunst setzte auf einen Zaubertrick, den alle sofort
durchschauten, was aber niemanden störte, weil sie selbst es waren, denen der
Zauber galt. Es sah ja nur so aus, als hätte sich die Architektur verwandelt
(unter den Tüchern blieb sie die alte). In Wahrheit verwandelten sich die
Menschen, die kamen – und sich so entrückt fühlen durften, wie der Reichstag
aussah.

Und jetzt? Kehrt der Zauber zurück? Vladimir Yavachev, der
orgasmusgestimmte Neffe des Künstlers, hat die Idee einer Lichtprojektion vorangetrieben,
kräftig unterstützt von den altgedienten Christo-Fans Roland Specker und Peter
Schwenkow, finanziert aus Lottomitteln. Ohne Trommelwirbel, ohne
Ansprachen, wie aus dem Nichts wurde die Fassade am Montagabend von
blitzend hellen Streifen überzogen, die sich hier- und dorthin streckten, um
dann erst mal wieder zu verschwinden. Anschließend sah es aus, als würden
schwere Stoffbahnen vom Dach aus über die Hauptfassade des Reichstags
abgerollt, nein, herabgespült. Und schließlich erweckte die sonst doch so
stoische, um Gravität bemühte Säulenfront einen seltsam wabbeligen Eindruck,
zittrig auch und manchmal weich umweht. 

Nein, kein Großgeraune war zu hören, kein Ahh und Ohh zu vernehmen. Nichts
an dieser digitalen, im Endlosloop vorgeführten Rückkehr des erinnerte an das Funkeln von einst, an die surreale
Entwirklichung, mit der die Kunst vor 30 Jahren die Menschen in den Bann
schlug. Damals war alles restlos verschwunden unter den Planen, jetzt hingegen,
unter den Lichtschleiern der Projektoren, können die Säulen, Fenster,
Skulpturen nicht einfach abtauchen. Sie bleiben, was sie sind, auch wenn es
manchmal aussieht, als kräuselten sich davor ein paar Tücher, der Wind führe
hinein, um die parlamentarische Gegenwart einmal zu durchlüften. Bereits um 22.08
Uhr sah man die ersten Besucher eilig davonziehen, die Erwartungen waren zu hoch gespannt, der Orgasmus blieb aus. Schnell sprach man vom Kunstflop des
Jahres. 

Aber nein, das
wäre ungerecht, die
Auferstehung Christos und Jeanne-Claudes hatte ja niemand versprochen. Und dass
der Reichstag noch einmal so aussehen würde wie im Sommer 95, konnte niemand
ernsthaft glauben. Das kleine große Lichtspiel,
das nun bis zum 20. Juni allabendlich zu sehen sein wird, will eine Hommage sein, mehr
nicht. Und weist ja
nebenher auch, auf fast tröstliche Weise, darauf hin, dass sich selbst mit
ausgefuchster Digitaltechnik das raffinierte Original, dieses sinnliche Spiel
mit Faltenwürfen, Plissees und Stauungen nicht ansatzweise nachformen lässt.
Nein, Christo lässt sich nicht nachmachen. Von Christo lässt sich nur
schwärmen. Davon, wie er die Macht des Faktischen zu überwinden verstand. Und
allen vor Augen führte, was Kunst und Demokratie unbedingt brauchen: ein
Denken, das über sich selbst hinausweist, eine schöne, funkelnde Vermessenheit. 

Der Mond übrigens war an diesem Abend noch lange zu sehen. Während sich die
Projektoren mühten, einen Anschein vom Anschein zu erzeugen, blieb er ganz
ruhig und satt und rot am Himmel hängen.

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