Überfüllte Krankenhäuser, eine vierstellige Anzahl von Verletzten, darunter viele mit Handamputationen oder Unterleibsverletzungen – das ist die erste Bilanz einer äußerst ungewöhnlichen und extrem wirkungsvollen Attacke, die am Dienstag Kämpfer und Angehörige der islamistischen Hisbollah-Miliz im Libanon traf.
Nach Angaben libanesischer Behörden sind am Montag acht Menschen getötet worden. 2750 weitere seien verletzt worden. Unter den Opfern waren auch zahlreiche Mitglieder der Hisbollah. Explosionen wurden im gesamten Land gemeldet, vor allem in den von der Hisbollah kontrollierten Gebieten.
Bei allen Opfern explodierten laut ersten Medienberichten Pager, die die Extremisten zum Austausch von Kurznachrichten untereinander nutzen. Auf Fotos, die bei X gezeigt wurden, waren Platinenbruchstücke mit Seriennummern der explodierten Pager zu sehen – demnach war das Modell AR924 des taiwanesischen No-Name-Herstellers Apollo Gold betroffen.
Dieses nutzt als Energiequelle handelsübliche AA-Akkus und eine kleine Lithiumbatterie als Backup. Das allein würde nicht ausreichen, um die gezeigten Verletzungen zu verursachen. Die AA-Akkus jedoch könnte ein Angreifer potenziell austauschen und durch eine mit Sprengstoff versehene Variante ersetzen, ohne Spuren am Gerät zu hinterlassen.
Auf Videos von Überwachungskameras, die aktuell in sozialen Netzwerken kursieren, ist zu sehen, wie die Pager erst den Eingang einer Nachricht anzeigen und dann explodieren. Betroffen war laut Reuters unter anderem der iranische Botschafter im Libanon.
Laut einem Bericht der „Washington Post“ warnt die Hisbollah inzwischen ihre Truppen, dass diese ihre Pager wegschmeißen sollen. „Jeder, der einen neuen Pager erhält, wirft ihn weg“, hieß es in einer Sprachnachricht, die an Hisbollah-Mitglieder verteilt wurde.
Demnach sind insbesondere Geräte betroffen, die erst kürzlich ausgeliefert wurden. Die Hisbollah benutzt seit einigen Jahren die relativ einfache und veraltete Pager-Technologie, um zu verhindern, dass sie via Smartphone lokalisiert, ausspioniert oder abgehört werden können.
Die Androhung von Vergeltung folgte prompt
Fraglich ist, wer die explosiven Pager verteilt hat, und wie der Angriff genau technisch funktionierte. Auf aktuellen Bildern aus überlasteten Krankenhäusern vor Ort, die auf X und Telegram geteilt werden, sind Verletzungsmuster zu sehen, die weit über Verbrennungen durch überhitzte Akkus hinaus gehen: Hände sind zerfetzt, Opfer haben großflächige Unterleibsverletzungen, liegen in ihrem Blut.
Die in den Videos gezeigte Sprengkraft geht weit über das hinaus, was ein durchgehender Lithium-Akku eines Mobilgeräts gewöhnlich verursachen kann. Defekte oder manipulierte Lithium-Akkus brennen zwar spektakulär ab, explodieren aber normalerweise nicht.
Daher liegt der Verdacht nahe, dass die jüngste Lieferung der Pager in den Libanon mit Sprengstoff-Kapseln auf dem Weg zwischen Fabrik und Auslieferung manipuliert wurde. Wichtigster Gegner der Hisbollah ist Israel, die Israelis wären zudem technisch dazu in der Lage, eine solche sogenannte Supply Chain Attack auszuführen.
Die Spannungen zwischen der Hisbollah und Israel hatten in den vergangene Wochen zugenommen, da die Hisbollah im August hunderte Raketen aus israelische Siedlungen und Städte schoss. Die proiranische Terrororganisation hat Israel derweil für die mutmaßlich koordinierten Explosionen Hunderter tragbarer Funkempfänger verantwortlich gemacht und Vergeltung angekündigt.
In Israel wurden die explodierenden Pager zunächst nicht kommentiert. Allerdings wurden die Kriegsziele auf den Konflikt mit der Hisbollah im Libanon ausgeweitet – fast ein Jahr nach Beginn des Kriegs zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas im Gazastreifen.
Die israelische Regierung habe die Kriegsziele aktualisiert und um die „sichere Rückkehr der Bewohner des Nordens in ihre Häuser“ erweitert, teilte das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Dienstag mit.
Für den weiteren Verlauf der Woche wurde US-Außenminister Antony Blinken in der Region erwartet, um die Gespräche über eine Waffenruhe wieder aufzunehmen.
Benedikt Fuest ist Wirtschaftskorrespondent für Innovation, Netzwelt und IT.