Es herrscht eine gespenstische Stille in der ehemaligen 65 000-Einwohnerstadt Pokrowsk im Osten der Ukraine. Doch an dem stetigen Wummern aus der Ferne merkt man: Vor den Toren wird massiv gekämpft.

Die meisten Einwohner sind bereits geflüchtet. Etwa 10 000 harren in ihren Wohnungen aus.

Ein älterer Mann will von BILD wissen: „Wann sind die Russen hier? Ich sitze auf gepackten Koffern. Muss ich weg, oder können wir sie noch aufhalten?“

Eine junge Frau scheint dagegen von der russischen Propaganda überzeugt. Sie warte auf die Russen, erklärt sie. „Wir werden nach Mariupol evakuiert. Da gibt es Arbeit und Frieden“, behauptet die 21-Jährige.

Russen attackieren ohne Rücksicht auf eigene Verluste

Acht Kilometer weiter östlich steht die russische Armee und versucht tagein, tagaus vorzudringen. „Seit wir den Feind östlich der Stadt gestoppt haben, nutzt er Lenkbomben, Raketen und Artillerie, um die Stadt zu zerstören. Nicht so sehr Wohnhäuser, dafür aber Industrieanlagen und kritische Infrastruktur“, erklärt Soldat Vitali BILD vor einem zerstörten Hotel im Zentrum der Stadt. Wasser, Gas, Wärme und Elektrizität gebe es seit einer Woche nur noch vereinzelt.

Warum die Russen Pokrowsk um jeden Preis haben wollen, verrät ein anderer Soldat, der nicht namentlich genannt werden will. „Hier treffen sich alle Transportwege. Außerdem kann man von der Stadt aus nicht nur weiter nach Westen, sondern auch nach Norden und Süden angreifen.“

Die düstere Warnung des Soldaten: „Fällt Pokrowsk, fällt der Donbas.“

Derweil haben die Russen ihre Angriffsbemühungen etwas weiter nach Süden verlegt und versuchen, die Stadt von hier zu attackieren. Unter massiven Verlusten, wie Artillerie-Kommandeur Andrej von der Brigade „Kara Dag“ („Schwarzer Berg“) erklärt.

„Zuerst sammeln sie sich weiter hinten in Gruppen von 50 bis 100. Dann laufen jeweils zwei bis drei in sehr kleinen Gruppierungen auf uns zu und sammeln sich erneut. Wenn es zehn bis 15 zu unseren Stellungen geschafft haben, attackieren sie uns.“

Die Strategie der ukrainischen Armee: „Wir töten so viele wie möglich. Von 100 bis 200, die am Tag auf uns zustürmen, schaffen es fünf bis zehn Prozent in ihre finale Position.“

Die Ukrainer sind zahlenmäßig unterlegen

Im Kontrollzentrum der Artillerie verfolgen die Soldaten auf Bildschirmen live, wie gesichtete Russen angegriffen und getötet werden. Drohnen-Videos der Angriffe zeigen bis zu 15 getötete Russen an einem Ort.

Verwundete schleppen sich in zerbombte Häuser oder sterben in Waldkämmen. Die russische Armee führt keine Evakuierungen durch. „Für die ist das eine Einbahnstraße“, sagt Andrej Achseln zuckend.

Doch Andrej gibt auch zu: „Um ehrlich zu sein, haben sie kleine Erfolge. Aber noch halten wir unseren Abschnitt.“

Das Problem, so ein anderer Soldat, sei sowohl die zahlenmäßige Überlegenheit der russischen Angreifer als auch deren überlegene Feuerkraft. Auf dem Boden sei Russlands Artillerie etwa viermal so stark, aus der Luft gebe es ständig Lenkbomben-Angriffe, gegen die man sich kaum verteidigen könne.

Trotzdem hat die Ukraine Pokrowsk noch nicht aufgegeben. „Natürlich kämpfen wir weiter“, sagt Andrej. „Aber noch haben wir den Punkt nicht erreicht, an dem die russische Armee gebrochen ist.“