Buhen für den Frieden

Es gibt Dinge, die wissen fast nur Politiker, und von denen auch nur einige. Zum Beispiel: Wie es ist, von Tausenden wütenden Menschen ausgebuht und angeschrien zu werden. Spätestens seit diesem Donnerstag gehört auch der SPD-Politiker Ralf Stegner zu diesen Politikern.

Es ist der 34. Jahrestag der Deutschen Einheit, seit ein paar Tagen zeigt der Herbst in Berlin sein hässliches Gesicht. Trotzdem haben sich laut Polizeiangaben etwa 10.000 Menschen an der Siegessäule, unweit des Brandenburger Tores eingefunden, um gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, gegen den Gaza- und Libanonkrieg und ganz allgemein für Frieden zu demonstrieren. Es ist die dritte große Friedenskundgebung in Berlin, an der Sahra Wagenknecht teilnimmt. Und es ist die erste, bei der Ralf Stegner auftritt, weil man, so begründete er es vorher, die Friedensbewegung nicht den Populisten überlassen dürfe.

Stegner steht in Jeans und Lederjacke an diesem trüben Oktobertag auf der Bühne. Ihm gegenüber Tausende eher grimmige Gesichter und Transparente. Seine Worte hallen durch den Nieselregen, als er sagt, dass die Ukraine einen russischen Angriffskrieg erlebt, der jeden Tag Tod und Zerstörung in das Land bringt. Der Satz ist noch nicht fertig gesprochen, da erhebt sich ein Konzert von Pfiffen und Buhrufen, Leute rufen „Aufhören“. Stegner versucht fortzufahren, aber der Lärm wird so stark, dass eine der Organisatorinnen an das Mikrofon tritt und darum bittet, sich ausreden zu lassen. Stegner kann weiterreden, aber die Buhrufe bleiben.

Es gab schon vorher viel Kritik an Stegner für seine Entscheidung, auf dieser Bühne zu sprechen. Zu der Demo hat ein Bündnis namens Nie wieder Krieg aufgerufen, und schaut man sich die Liste von Unterstützern an, dann könnte man es sich sehr einfach machen. Gewerkschaftler und Mitglieder der Linkspartei tauchen da auf, aber auch solche der Coronaleugner-Bewegung dieBasis oder der DKP. Im Demoaufruf steht nichts von der russischen Kriegsschuld, stattdessen findet man da Sätze wie diesen: „Wir alle sollen kriegstüchtig gemacht werden“.

Trotzdem hat Stegner vielleicht einen Punkt, denn es ist ja unstrittig, dass in der deutschen Gesellschaft der Wunsch nach Ausgleich mit Russland wächst. 41 Prozent der Deutschen wollen einer ipsos-Umfrage zufolge die Waffenlieferungen an die Ukraine beenden. In den Wahlkämpfen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen war das Thema vermutlich wahlentscheidend. Macht es da für Gemäßigte wie Stegner nicht Sinn, in einen Dialog zu treten? Sich für Frieden aussprechen, aber auch deutlich zu machen, dass ein Ende der Unterstützung für die Ukraine vermutlich auch ihr Ende als selbstbestimmter Staat und viele weitere Menschenrechtsverletzungen bedeutet?

Reinhard Mey läuft

Ein paar Stunden vor Stegners Rede, am Gleisdreieck in Berlin-Kreuzberg – einem der drei Treffpunkte, von denen aus der Sternmarsch Richtung Siegessäule stattfinden soll. Eine kleine Bühne ist aufgebaut. Reinhard Mey läuft, man sieht viele ältere, weiße Gesichter, eine Erdinger-Fanjacke, Pace-, DKP- und Palästinaflaggen. Eine unauffällige Frau mit Parka um die fünfzig sagt, sie sei hier, weil sie gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen sei. Die würden ja auch in ihrer Heimat, dem Rhein-Main-Gebiet, stationiert. Sie habe Angst vor einer Eskalation.

Und Putin? Vor dem habe sie jetzt keine Angst. Sie habe sich neulich seine Rede zur Lage der Nation angeschaut, der wolle ja auch das, was deutsche Politiker wollten: Infrastruktur, Bildung.

Ein paar Meter weiter steht ein Mann Ende dreißig in einem Hoodie. Er ist Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegnerinnen (DFG-VK) – eine antimilitaristische Gruppe, die sich allerdings von der Friedensdemo distanziert, unter anderem, weil jede Kritik an Russland fehlt. Er ist hier, um die aus seiner Sicht schlimmsten Transparente zu fotografieren. „Plakatkritik“ nennt er das.

Er kommt, sagt er, aus dem Osten. Sein Vater sei wegen Kriegsdienstverweigerung im Gefängnis gelandet. Jetzt schaut er bitter auf die Transparente vor ihm. „Frieden“, sagt er, „geht halt nicht ohne Antifaschismus.“ Aber es sei selbst innerhalb der DFG-VK schwer, gegen die alten, vor allem westdeutschen Friedensanhänger und ihre Feindbilder von Nato und USA durchzukommen.

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