Brosdas Schweigen

Am Ende erzählen immer die Sieger die Geschichte. Verständlich also, dass das, was man seit Wochen über das Hamburg Ballett liest, bisweilen recht einseitig klingt: Die von John Neumeier vor fünf Jahrzehnten gegründete und bis heute geprägte Kompagnie habe dessen Nachfolger Demis Volpi unerschrocken als Nichtskönner und untragbaren Despoten entlarvt – und nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt davongejagt.

Als Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda vorigen Freitag vor den Kulturausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft zitiert wurde, klang die Sache ganz anders. Die Staatsoper, deren Aufsichtsrat Brosda vorsitzt, habe gegen Volpi nichts in der Hand gehabt, um seinen Vertrag vorzeitig zu beenden – was geboten gewesen wäre, wäre von Volpi eine Gefahr für die Mitarbeiter ausgegangen. Stattdessen erfolgte die Trennung „einvernehmlich“, mit einer satten Abfindung für Volpi und der dünnen Begründung, dass für eine weitere Zusammenarbeit mit der Kompagnie die nötige Grundlage fehle.

Was das heißen soll, warum Volpi also gehen musste: Darüber ist von Brosda nichts zu vernehmen, dem Einzigen, der die Sache aufklären könnte. Aber der Auflösungsvertrag mit Volpi enthalte eine Schweigeklausel, an die er als Aufsichtsratschef gebunden sei.

Damit kann Brosda, der bislang als vom Glück geküsster Kulturpolitiker galt, nur noch falsche Entscheidungen treffen. Sagt er nichts, kann er das Scheitern der vielleicht wichtigsten Personalie seiner Karriere nicht erklären. Und er belastet Volpi, dessen Ruf als toxischer Hochstapler weiter unwidersprochen bleibt. Sagt er doch etwas, kommen Dinge ans Licht, die den ganzen Vorgang nur noch dubioser erscheinen lassen. Etwa durch seinen Hinweis, auch er kenne die Namen der angeblichen 17 Tänzerinnen und Tänzer aus Düsseldorf nicht, die sich bei ihm über Volpi beschwerten.

Aus der Hamburger Kompagnie selbst hört man unterdessen, dass die Befragung des Ensembles, die sogenannte Gefährdungsbeurteilung, die Volpis Aus zu besiegeln schien, nie abgeschlossen wurde. Statt alle Mitarbeitenden unter Volpis Führung anonym zu befragen, begnügte sich der Betriebsrat mit den Tänzern, die ihre Opposition zu Volpi vorher schon öffentlich kundgetan hatten – zur Irritation des Teams. Die Ergebnisse der Befragung hält der Betriebsrat unter Verschluss, Fragen dazu beantwortet er nicht. Enthalten die Unterlagen so Gravierendes, dass die Öffentlichkeit um keinen Preis davon erfahren soll? Oder enthalten sie gar nichts? Man möchte sich kaum ausmalen, was für den Ruf des Hauses verheerender wäre.

Für das jähe Ende Volpis kursiert im Ballett eine ganz andere Erklärung: Für die Aufführung der Neumeier-Ballette fließt Geld an die John-Neumeier-Stiftung, die die Rechte an den Werken hält. Wenn das Publikum erst einmal Gefallen an der Arbeit anderer Choreografen gefunden hätte – was würde dann aus dem Geschäftsmodell? Das Pfingstwochenende, an dem Volpis Weggang besiegelt wurde, galt als letztmöglicher Moment, um das Programm der beliebten Balletttage wieder stärker auf Neumeier zu drehen.

Und jetzt? Die Interimsleitung mit dem Neumeier-Zögling Lloyd Riggins sei für „zwölf Monate plus x“ im Amt, sagte Brosda im Kulturausschuss. Erst dann werde mit der Nachfolgersuche begonnen. „Und ich kann Ihnen nicht einmal versprechen“, so der Senator, „dass es dann besser läuft.“

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