Bitte niemals ändern

Die traurigsten Momente im Leben jener Männer, die man Großmaul nennt, sind ja immer die, in denen sie zum Kleinmaul schrumpfen. Die Klügsten unter ihnen wissen selbst schon früh, wenn es abwärts geht, und umso schneller schreitet dann der Prozess ihrer Schrumpfung voran. Beim Fußballtrainer Sandro Wagner war es an seinem 38. Geburtstag, als sein damals noch aktuelles Team, der FC Augsburg, bei der TSG Hoffenheim mit 0:3 verlor. Die Interviews, die er danach gab, waren herzerreißend.

Sandro Wagner, den sie ja nach Augsburg geholt hatten, weil sie selbst seit Jahren ein Kleinmaulverein sind, grau, missachtet, übersehen, mit einem so unauffälligen Trainer, dass man befürchten musste, die eigenen Spieler könnten seinen Namen nicht kennen – dieses graue Augsburg hatte endlich bunt werden wollen, wahrgenommen, laut und stolz und viel beachtet. Wie gut hatte das geklappt! Nur leider haben sie halt immer verloren. Sandro Wagner behielt – wie es die Jobbeschreibung des Großmauls vorsieht – seinen Stolz, seine Zuversicht, die leuchtenden Augen, die gute Frisur, die großen Worte und die lauten Sprüche einfach bei, wie ein vom Schicksal Unberührbarer. Das war toll. Ich habe jedes seiner Interviews geliebt.

Ich liebe ihn aber auch schon lange. Er hat meinen Verein, SV Darmstadt 98, vor vielen Jahren in die Erste Bundesliga geköpft und hat uns ein Jahr mit seinen Kopfballtoren und Aytaç Sulu und all den anderen Unsterblichen dort oben gehalten. Und ich war in den Minuten dabei, als er sich für alle Zeiten gegen alle negativen Schwingungen der Welt imprägnierte. Das war im Berliner Olympiastadion, wir spielten gegen Hertha BSC, jenen Verein, der den jungen Sandro Wagner so gedemütigt hatte, als er dort unter Vertrag war und für untauglich befunden wurde und stundenlang im Einzeltraining aufs leere Tor schießen musste, bis sich endlich ein Verein fand, der verzweifelt genug war, ihn zu nehmen. Das waren wir.

Und nun spielten wir also gegen Hertha im Olympiastadion, und wir brauchten noch drei Punkte für den Klassenerhalt, und wir führten kurz vor Schluss mit 3:1, und der Sieg stand fest, als Sandro Wagner, der schon Gelb hatte, nach dem Pfiff des Schiedsrichters an der Eckfahne den Ball wegschlug. Weil er vom Platz gestellt werden wollte. Das klappte. Gelb-Rot für Wagner, und damit begann sein ganz besonderer Triumphmarsch. 70.000 Berliner pfiffen ihn gellend aus (5.000 Lilien jubelten ihm zu), und er schlenderte – er hatte ja schon Rot – so langsam wie möglich über den ganzen Rasen durch dieses markerschütternde Konzert der 70.000 Pfiffe. Kopf erhoben, stolz, von Pfiffen, Hass, Verachtung unerreichbar. Er hatte triumphiert. Und Hertha, die 70.000 und alle, die ihn gedemütigt hatten, hatten verloren. Ein großer Moment.

Sandro Wagner, der schon vorher kein Flüsterprofi war, wurde zum Großmaul, imprägniert von Pfiffen und Hass. Er hat es dann sogar noch zu Bayern München geschafft und hatte dort seinen meist beachteten Moment, als er nach dem verlorenen Pokalfinale, wieder im Berliner Olympiastadion, seine frisch verliehene Silbermedaille voller Verachtung ins Publikum schleuderte. Während alle Zuschauer dachten: Hä? Kann der Typ vielleicht stolz sein, dass er überhaupt für Bayern München im Pokalfinale stand, dachte sich Sandro Wagner offenbar: Ich bin ja wohl nicht extra zu den Bayern gegangen, um hier ein Pokalfinale zu VERLIEREN!

Womit wir wieder bei seinem 38. Geburtstag wären und den Interviews, die er geben musste, als auch der Realitätsverweigerer, Großsprecher und Ich-King Sandro Wagner erkannt hatte, dass es vorbei war. Seine Augen glänzten noch ein bisschen mehr als sonst – oh Gott, er wird doch nicht weinen?! –, er hatte keinen dicken Spruch mehr, stellte nicht mehr sein großes Ego vor die kleine Mannschaft. Einfach, weil es nicht mehr ging. Es war plötzlich klein geworden, das Sandro-Ego. Diese Niederlage ließ sich nicht zu einem Sieg umquatschen. Er musste dann noch einmal in die Kurve, er hatte Geburtstag, die Fans wollten ihn sehen, einige ihn sogar feiern. Aber er wusste, was nun kommen würde. Seine Entlassung und damit all die Hyänen-Kommentare von all den Journalisten, die ab der ersten Pressekonferenz an den Lippen des Großmauls gehangen hatten, seine Geschichten geschrieben hatten, weil Berichterstatter über Augsburg so viel gelesen wurden wie nie zuvor.

Jetzt profitierten sie noch ein letztes Mal von ihm. „Hat nie gepasst“. „Das Missverständnis“. „Konnte nicht gutgehen“. „Was hat dieser Herr Wagner schon geleistet?“ Das ist ziemlich jämmerlich. Das Gute aber ist: Sandro Wagner wird wiederkommen. Er ist imprägniert gegen Zwerge dieser Art. Er ist ein Großmaul. Eine Art Held.

Mehr lesen
by Author
Die Bundesregierung rechnet Medienberichten zufolge mit Investitionen von etwa 15,5 Milliarden Euro…