Bitte mehr vom Boss

Es
gibt einen besonders berührenden Moment in
in dem Springsteen alleine auf der Bühne steht, eine Akustikgitarre
umgeschnallt, und
den Song spielt.
Ein Lied, das er vor einigen Jahren geschrieben hat, als ihm bewusst wurde,
dass er das einzige noch lebende Mitglied seiner ersten Band ist. An einem früheren
Punkt im Film haben wir diese Band auf einem Schwarz-Weiß-Foto gesehen:
Teenager mit Beatles-Frisuren und pubertär-ernster Miene. The Castiles. Das war
1966. Einer von ihnen ist schon im folgenden Jahr in Vietnam gestorben. singt Springsteen, Mitte 70, die Kamera ganz
nah.

Über
mehrere Monate hat der Regisseur Thom Zimny erstaunlichen Zugang zu Bruce Springsteen und seiner E Street Band bekommen. Im Februar 2023 ging die legendäre
Gruppe aus New Jersey zum ersten Mal seit sieben Jahren auf Tour. Zimny hat sie
von den ersten Proben über die USA-Tournee bis nach Europa begleitet. Sein Film
– mit gut 90 Minuten ungefähr halb so lang wie ein
Springsteen-Konzert – ist eine Mischung aus Livemitschnitten und Behind-the-Scenes-Aufnahmen, Interviews und Archivmaterial. Führt man sich vor Augen, was
Zimny in diesen Monaten mit der Band alles dokumentiert haben wird, muss man
enttäuscht sein, dass nichts Mitreißenderes entstanden ist als dieser solide
Imagefilm.

Man
versteht aber, warum Springsteen seit Jahren gerne mit Zimny arbeitet. Der hat
unter anderem die Aufnahmen zum Album (2020) gefilmt und
auch Springsteens Broadway-Gastspiel 2018/19; er ist so etwas wie des Bosses
Hausfilmer, ein staunender Bewunderer, mehr Hagiograf als Biograf. Das ist
auch völlig in Ordnung: Von einer autorisierten Musikdoku wie
erwartet niemand investigativen Journalismus, und die kritische
Auseinandersetzung sollen ruhig andere machen. Nein, es geht darum, die
Besonderheit, Energie und Intensität des Künstlers zu transportieren, sie
erfahrbar zu machen, auch für Leute, die – wie im Falle Springsteens – nicht
mehrere Hundert Euro übrig haben, um sich Konzertkarten zu kaufen. Um all das
festzuhalten, ist ein Fan nicht die schlechteste Person.

Das Pulver wird nicht verschossen

Warum
aber zeigt Zimny uns so viel anderes als die Band bei der Arbeit? Die
lohnenswerten Momente sind vor allem die, in denen wir die Band sehen, wie sie
macht, was sie macht. Der Gitarrist und Arrangeur Stevie Van Zandt, der sich
wie ein Chemiker im Labor hoch konzentriert über Notenblätter beugt, oder
Drummer Max Weinberg, der mit kindlicher Freude die Becken schlägt, oder
Springsteen selbst, der mit lässigen Hand- und Hüftbewegungen den Backing-Chor
dirigiert. Das ist alles toll. Zimny hätte einfach eine Kamera im Proberaum
installieren, sie eine Viertelstunde laufen lassen und das gedrehte Material
ungeschnitten in den Film aufnehmen können. Nichts hingegen ist langweiliger als
ein im sterilen Studio gedrehtes Interview mit einem Backing-Sänger, der Dinge
sagt wie „Bruce ist strukturiert, aber zugleich flexibel“.

Zimny
hat mit allen E-Street-Band-Mitgliedern gesprochen, mit allen Bläsern und mit
allen Sängern, sie sind alle liebenswert, und man glaubt ihnen jedes Wort.
Einige Interviews bringen sogar Unbekanntes zutage, wie das Interview mit Patti
Scialfa, Springsteens Ehefrau und Backing-Sängerin der Band, die über ihre
Krebserkrankung spricht, oder das mit Stevie Van Zandt, der – mit perfektem
Timing, als wäre er immer noch Schauspieler bei den – erzählt,
dass Springsteen ihn endlich zum ernannt habe: Diese gehaltvollen Interviewmomente sind die Ausnahme.

Vielleicht
folgt Zimny einer Ansage vom Boss und dessen Produzenten Jon Landau. Nicht das
ganze Pulver verschießen, der Konzertfilm kommt später noch. Wer weiß?
Springsteen ist jedenfalls als Drehbuchautor gecreditet. Im Gegensatz zu seinen
Bandkollegen sehen wir ihn nicht in den Interviews, sondern hören nur seine
Stimme, wie sie im Voiceover einen geschriebenen Text etwas gestelzt vorträgt.
Nach seiner Autobiografie von 2016 und seiner
Broadway-Show, in der er jeden Abend den gleichen Songzyklus spielte und
Passagen aus dem Buch performte, ist er im Spätwerk angekommen, in dem er seine
Lebensgeschichte zum musikalischen Mythos macht.

Warum bekommt man nicht den „real deal“?

Das
Verstreichen der Zeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit sind die Themen dieses
Spätwerks und die Themen dieser aktuellen Tour, die noch bis mindestens nächsten
Sommer gehen soll. Eigentlich sind die Shows, die Springsteen mit der E Street Band spielt, dreistündige Rock-’n‘-Roll-Partys, ungestüm und ungeplant, mit Setlisten, die
mitbestimmt werden von den Zwischenrufen und Plakaten der Fans. Diesmal aber
hat Springsteen 25 Songs ausgewählt, die, zumindest in der ersten Phase der
Tour, nur minimal variiert und ergänzt werden und Lieder aus fünf Jahrzehnten
miteinander verbinden. Er erzählt sein Leben als eine dramatische musikalische
Geschichte.

Diese
Dramaturgie lässt allenfalls erahnen. Den groben Ablauf eines
Konzertes übernimmt der Film zwar – das kämpferische am Anfang,
das elegische Soulstück in der Mitte,
als melancholischer Abschied –, aber der emotional kraftvolle Aufbau einer Show
wird hier mehr behauptet als gezeigt. Auch beim Konzertteil des Films würde
man also die generischen Dokumomente unbedingt gegen weiteres Rohmaterial
tauschen wollen. Zimny lässt dann auch noch Fans aus verschiedenen Ländern zu
Wort kommen, die ausführlich über das Gemeinschaftsgefühl einer
Springsteen-Show sprechen. Alles liebenswert. Aber warum nimmt das so viel Raum
ein, wenn man bekommen könnte?

Womit
wir wieder bei sind, dem Song über seine alte Band. Bei
dieser Performance bleibt Zimny im Moment, schneidet nicht zu einem Interview
oder einem alten Foto. Springsteen spielt das Stück in einem wunderbaren
Unplugged-Arrangement, nur mit Bläserbegleitung. Und geht dann sofort in den nächsten
Song über: von seinem Durchbruchsalbum (1975).
Eine fantastische Gegenüberstellung, ein bewegender Sprung über die Jahrzehnte,
die mitreißende Gegenwart des 50 Jahre alten bekommt durch
die vorangegangene Elegie ein dramatisches Gewicht; die Lieder färben und
bereichern sich gegenseitig. In einer herausragenden Coda wiederholt
Springsteen mit heiserer Stimme die Zeile immer wieder, immer
wieder, und er müsste es später gar nicht aussprechen, aber tut es in diesem
Film ohne Subtext natürlich doch: Er wird weitermachen, bis er nicht mehr kann.
Fahren, bis die Räder abfallen. .

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