Bis hierhin eine schöne Geschichte

Angefangen hat alles in St. Mary’s. Von der Schule fuhr Little Simz direkt zu diesem Jugendclub im Nordlondoner Viertel Islington, der mittlerweile wie so viele andere geschlossen wurde. Die Musikerin, geboren 1994 als Simbiatu Ajikawo, Tochter nigerianischer Eltern und talentierteste britische Rapperin ihrer Generation, verbrachte dort lange Nachmittage mit Musik, Schauspiel und Tanz. Sie hörte Busta Rhymes, Nas und Lauryn Hill und trat bei Talentshows auf. In St. Mary’s traf Little Simz damals auch einen ihrer wichtigsten Kreativpartner: Dean Josiah Cover, der sich als Produzent Inflo nennt, für Adele gearbeitet hat und gemeinsam mit seiner Ehefrau Cleo Sol hinter dem lange geheimnisumwitterten Soulkollektiv Sault steckt. Inflo hat drei Alben mit Little Simz produziert, zwei davon waren für den Mercury Prize nominiert, die wichtigste Auszeichnung der britischen Pop- und Rapmusik.

Bis hierhin ist es eine schöne Geschichte. Die Schwarzen Kids aus einer rauen Londoner Gegend wurden zu zwei der inspirierendsten Persönlichkeiten des britischen Gegenwartspops. Warum das wichtig ist? Weil eben diese Jugendfreundschaft und Arbeitsbeziehung vor Kurzem böse in die Brüche gegangen ist und dieser Umstand wiederum viel mit dem neuen, sechsten Album von Little Simz, zu tun hat. Aktuell läuft in Großbritannien eine Klage wegen mutmaßlicher Schulden in Millionenhöhe: Inflo soll ein Darlehen über 1,7 Millionen Pfund (rund zwei Millionen Euro) nicht zum verabredeten Zeitpunkt an Little Simz zurückgezahlt haben. Auf verarbeitet sie ihre Enttäuschung über die daran zerbrochene Freundschaft.

Little Simz ist eine smarte Rapperin, die in ihren Texten mal cool und abgebrüht daherkommt, mal ihre innere Zerrissenheit offenlegt. Der Kreis an Rappern, denen man beides abnimmt, ist nicht groß. Kendrick Lamar gehört dazu – und der war es auch, der Little Simz 2015 mit einem so erstaunlichen wie viel zitierten Satz die erste große Aufmerksamkeit brachte: Man kann den Superlativ von auf viele Arten übersetzen: krass, wahnsinnig – oder eben: wahnsinnig gut.

ist nun also eine Abrechnung – mit Inflo, der Musikindustrie und Little Simz‘ eigener Rolle darin. Es ist ihr bisher verletzlichstes, nach innen gewandtestes Werk – und das heißt etwas für eine Rapperin, die schon immer sehr direkte, ehrliche Songs geschrieben hat. Auf dem Album verhandelte sie 2019 den Tod eines Freundes. trug 2021 das Geständnis schon im Titel. aber fühlt sich jetzt noch persönlicher, geradezu intim an. Es ist ein wütendes Album, ja. Es wird viel ausgeteilt – gleich im ungestümen Eröffnungsstück das direkt an Inflo gerichtet scheint. , rappt Little Simz, angetrieben von einem Beat zwischen Punk- und Funk-Einflüssen. Vor allem aber erzählt die Geschichte einer Frau, die eine Krise durchschritten hat. Little Simz setzt all die Verluste, Zweifel und Enttäuschungen, die sie laut eigener Aussage in den letzten Jahren an einen Tiefpunkt geführt haben, in Musik und Lyrics um. Schmerz und Poesie greifen ineinander.

ist deshalb nicht immer einfach zu hören. Manchmal fühlen sich die Texte wie gerappte Tagebucheinträge an, und die Zeit, aus der sie stammen, wirkt wirklich düster. Vieles dreht sich um depressive Phasen und Selbstzweifel, die Little Simz während der Albumproduktion (die erste ohne Inflo seit 2019) gequält haben. Einmal rappt sie etwa:

Krawallmacherin im Pub

Little Simz zeichnet mit solchen Zeilen ein Bild, das im Widerspruch steht zu der aufgeweckten, selbstbewussten, produktiven Alleskönnerin, als die man sie bisher kannte. Mit gewann sie den erwähnten Mercury Prize und einen Brit Award, schaffte es außerdem erstmals in die Top Ten der UK-Albumcharts. Nebenbei arbeitete sie als Schauspielerin. Endlich schien alles zu laufen – nachdem man sich zuvor jahrelang gefragt hatte, warum eine Rapperin mit so viel Talent und Durchsetzungskraft kein viel größerer Popstar ist.

zeigt, dass eben doch nicht alles lief. Heilung scheint Little Simz in der Zusammenarbeit mit anderen Musikern zu finden: Sampha, Michael Kiwanuka, Moses Sumney und andere tragen zu einem vielfältigen Sound bei. Einflüsse von Soul und Jazz über Punk bis Bossa Nova prägen das größtenteils von dem Londoner Produzenten Miles Clinton James betreut wurde und sich weniger um Genregrenzen und einheitlichen Klang schert als frühere Alben von Little Simz.

Nach und nach schleichen sich auch Wärme und Leichtigkeit in die Songs. In beschwören Percussion und Klavier südamerikanische Einflüsse. Das ursprünglich als Gedicht konzipierte erkundet die Dualität von Angst und Liebe. Das Arrangement von rückt Little Simz‘ Stimme so weit in den Vordergrund, dass man glaubt, auch die Stille hören zu können, die ihre Gedanken umgibt. Neben den ernsten stehen auch einige spielerische Stücke: In schlüpft die Rapperin mit breitem Londoner Akzent in die Rolle einer Pub-Krawallmacherin. stellt sich einen Streit zwischen Geschwistern vor, der, wie auch Kendrick Lamars eher szenisch gesprochen als gerappt wird.

Die zwei wichtigsten Songs kommen jedoch erst am Ende von . Das sechseinhalbminütige Titelstück ist eine zwar immer noch zornige, aber auch gravitätische Gospel-, Jazz- und Rapvision. Im melancholischen holt Little Simz noch einmal all ihre Selbstzweifel und Ängste hervor. Es markiert das Ende eines Heilungsprozesses, einer Geschichte von verlorener und wiedergefundener Hoffnung. Little Simz hat schon bessere Musik gemacht. Aber nie zuvor so eindringliche.

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