Bestialische Opulenz

Vorab als kleiner Kundenservice, so was ist inzwischen bekanntermaßen wichtig: Man wird selbst bei strammem Tempo, großzügig budgetierter Freizeit und ungestörter Konzentration mindestens eine Woche brauchen, um diesen Roman zu bezwingen. Im Verhältnis ist das wenig gegen die Zeit, die sein Autor, der Wiener Schriftsteller Dimitré Dinev, benötigte, um ihn zu schreiben, 13 Jahre, wie man hört, und es ist auch noch wenig im Vergleich zu etlichen Romanen, die man sogar nach 13 Jahren nicht zu Ende bringt, weil sie sich lesen, als seien sie in einer Woche geschrieben worden.

Ja, Dinevs Buch verlangt einige Langmut, es sind knapp 1.200 bisweilen erheblich herausfordernde Seiten. Sie lassen sich während der Lektüre bewundern wie gelegentlich verfluchen, wobei die Bewunderung zunächst größer sein dürfte, da allein der Erzählgestus bereits imponiert, seine altväterliche Opulenz und sein Wille zum Überschießenden, mit denen hier nahezu ein gesamtes Jahrhundert hingebreitet wird und die so wundersam fernab von den Moden unseres therapeutischen Gegenwartsrealismus stehen.

Das Buch beginnt mit der österreichischen Lazarettschwester Eva kurz vor dem Ersten Weltkrieg, mit einem ersten Satz, in dem der schelmenhaft flambierte Ton aufscheint, dem man im Roman fortan häufiger begegnen wird: „In dieser Sommernacht war Eva Nagel zur Donau gegangen mit der Absicht, sich ins Wasser zu werfen, aber stattdessen warf sie sich in die Umarmung des Infanterieleutnants Alois Kozusnik.“

Mit Eva, ihren Kindern und Kindeskindern beginnt ein weiß Gott schwer überschaubares Personal an Hauptfiguren, an deren verwickelten Schicksalen man Anteil nimmt und deren Wege sich kreuzen, ebenso wie sie in die ideologischen Menschenversuche und deren Grausamkeiten geraten, in die Gewalt- und Todesexzesse des frühen 20. Jahrhunderts. Es ist ein Roman, der zwar nicht die ganze Welt, jedoch immerhin einen großen europäischen Teil von ihr umfasst: Österreich, Deutschland, ein wenig Russland, aber vor allem das sozialistische Bulgarien, dem Dinev, im Jahr 1990, selbst entkam. Um die Biografien seiner Figuren spinnt Dinev seine Geschichten und entfaltet weitverzweigte Familiengenealogien samt heftiger Ereignisdichte, was sich hier nur sehr gerafft erzählen lässt.

Eva trifft den stillen Fischer Xaver und zeugt mit ihm Angela. Angela heiratet Helmut und zeugt mit ihm Bruno. Der zu schlampig hingerichtete, gedächtnislose Wehrmachtssoldat Leopold trifft die bulgarische Hirtin Neda in den Bergen, heißt fortan Meto, sucht seine frühere Heimat mit Geleit seines offenbar unbesiegbaren Hundes, und er trifft, wir erinnern uns an sie, Angela. Unterdessen wird der Roma-Mann Barko zum Anarchisten im berüchtigten bulgarischen Folterlager Belene, wo jede Hoffnung, jede Individualität mit einem Wimmern verendet. Auch Barko hat einen Sohn, er heißt Raiko, und die Hirtin Neda hat eine Tochter, die in die Partei eintritt, und immer so weiter, bis wieder die nächste Figur auftaucht, die nächste Nebenhauptfigur und Nebennebenfigur, meist Weltkriegssoldaten, bestialische Lageraufseher, mickrige Kommunistenoffiziere, die sich vor Stalins Büste einen ansaufen, oder österreichische Wachtmeister, die Strutz oder Blechmoos heißen und die man sich alle nicht merken muss, jedoch trotzdem kaum vergisst.

Dimitré Dinev holt tief Luft, die Stammbäume wuchern durch die – im Falle Bulgariens literarisch kaum bearbeitete – Zeitgeschichte, und die Donau tritt übers Ufer, so wie dieser ganze Roman in aufreizender Uferlosigkeit dahinschwelgt, Figuren anspült und versickern lässt und sie nach Hunderten von Seiten wieder an die Oberfläche zieht. Dinev gelingen dabei sinnliche, hochauflösende und – gemessen an den Standards der zur Ökonomie dressierten Gegenwartsliteratur – wagemutig ausführliche Soziografien und Bilder vom österreichischen Dorfleben, von den einsamen Existenzen im bulgarischen Gebirge, dem Geruch der Schafe, dem Kerzenwachs und dem Käse, von den Landkartengesichtern der Alten, vom Leben der ewig verfolgten, um ihre Identität beraubten Roma. Es ist auch ein Buch über Menschen am Wegesrand der Geschichte und über Verrohungsfreude, dieweil die Natur unschuldig Frühling spielt und die Marillen blühen.

Dass Dinevs Komposition dieses ausladende Konvolut an Geschichten, Lebensverästelungen und Verknotungen größtenteils zusammenhält, ist schon eine literarische Leistung, ebenso wie das Nebeneinander der Stilregister, die Dinev in der Regel organisch zusammenbringt: Derbheit und kargste Nüchternheit, blumigste Ironie und mystisch verwehtes Märchen, in dem viel mit Geistern, Grabsteinen, Krähen und dem Wind gesprochen wird, vor allem aber mit der Donau selbst, die alles miterleben muss, was die Menschen einander antun. „Das Gute ist an keine Zeit gebunden“, sagt einmal die unerschrockene, tapfere Hirtin Neda zu einem Soldaten, und von dieser Hoffnung auf Erbarmen und Glück ist dieser Roman grundiert, auch wenn sie immerzu vom Bösen überschattet wird. Im Krieg, in der Nazizeit, im Sozialismus, im Lager. Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas hat einmal gesagt, die Europäer seien „schwer Kriegsversehrte oder Nachkommen von schwer Kriegsversehrten“, und in seinem ausschweifenden Mehrfamilienepos, so scheint es, sucht Dinev auch diese gewaltige Tragödie des Kontinents zu bannen in Form eines großen, mehrdimensionalen Romans, der viele Romane in sich trägt.

Die zahlreichen Sexszenen allerdings sind zumeist eine Qual, aber das sollte man großzügig übersehen; nach dem dritten oder siebten Satz der Sorte „Er kostete den Saft zwischen ihren Schenkeln“ lernt man, dass man auf 1.200 Seiten hin und wieder einen Absatz überspringen kann. Das ändert nichts an Dinevs ausschweifender, ausladender Genauigkeit und dem bewundernswerten Mut zur Monumentalität, vor dem man sich letztlich nur verbeugen kann.

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