„Bei weniger schweren Delikten wird sehr wohl U-Haft verhängt“

Der Untergang des Immobilien- und Handelsunternehmens Signa Holding gilt als größter Insolvenzfall der österreichischen Nachkriegsgeschichte, der auch zahlreiche deutsche Investoren und Städte trifft. Gegen Signa-Gründer René Benko liegt seit einigen Tagen ein europäischer Haftbefehl des Staatsanwaltschaft Trient vor.

In seiner Heimat Österreich muss Benko vorerst keine Vollstreckung dieses Haftbefehls fürchten. Robert Kert, Universitätsprofessor für Strafrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien, erklärt im Interview, welche Eigenheiten in Österreich für die Vollstreckung solcher Haftbefehle gelten. Und warum er die österreichische Strafprozessordnung für die voraussichtlich anstehenden Verhandlungen um die Signa-Pleite für nicht ausreichend gerüstet hält.

WELT: Die Staatsanwaltschaft im italienischen Trient hat einen Europäischen Haftbefehl gegen René Benko aufgrund mehrerer Delikte wie Betrug erlassen. Die Staatsanwaltschaft Innsbruck will diesen laut eigenen Angaben aber nicht vollstrecken. Ist das eine Besonderheit Österreichs oder würde jedes europäische Land seine Staatsbürger auf diese Weise schützen?

Robert Kert: Auffällig war, wie schnell die Staatsanwaltschaft Innsbruck in Tirol diese Entscheidung getroffen hat. Im selben Moment, als die Staatsanwaltschaft Innsbruck bestätigte, dass ein Europäischer Haftbefehl gegen Herrn Benko vorliegt, hat sie bereits mitgeteilt, dass sie diesen nicht vollstrecken wird. Allerdings galt im klassischen Auslieferungsrecht immer schon der Grundsatz, dass eigene Staatsbürger nicht ausgeliefert werden. Staaten – nicht nur Österreich – sind daher grundsätzlich zurückhaltend bei der Auslieferung eigener Staatsbürger. In der EU hat sich diese Sichtweise aber schon geändert. Ein Europäischer Haftbefehl muss zwar nicht vollstreckt werden, wenn das Strafverfahren gegen den Verdächtigen etwa im eigenen Land geführt wird. Es gibt aber keinen Automatismus mehr, eigene Staatsbürger prinzipiell nicht an andere EU-Staaten auszuliefern.

WELT: Schützt Österreichs Justiz den Verdächtigen Benko zu sehr?

Kert: Was man sagen kann, ist, dass Österreich bei der Umsetzung des Europäischen Haftbefehls darauf bedacht war, eigene Staatsbürger möglichst nicht zu übergeben. Deshalb übergibt Österreich eigene Staatsbürger aufgrund solcher Haftbefehle nur äußerst selten an das EU-Ausland. Man kann durchaus diskutieren, ob das dem Instrument des Europäischen Haftbefehls überhaupt entspricht. Denn die EU soll ja eben einen gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gewährleisten. Da nimmt es sich schon eigenartig aus, wenn EU-Mitgliedsländer ihre Bürger vor anderen EU-Ländern schützen müssen, wenn diese strafrechtlich verfolgt werden.

WELT: Noch ist allerdings nicht endgültig entschieden, ob Österreich René Benko an Italien ausliefert oder nicht. Das Landesgericht Innsbruck muss den Antrag der Staatsanwaltschaft Innsbruck noch prüfen. Rechnen Sie mit einer Auslieferung?

Kert: Ich könnte hierzu nur spekulieren. Was ich sagen kann: In Anbetracht früherer Fälle wäre eine Auslieferung definitiv eine Überraschung. Zudem sollte man sich vor Augen halten, dass auch die österreichische Justiz strafrechtlich wegen einer Reihe von möglichen Straftaten gegen Herrn Benko ermittelt. Daher kann ich mir vorstellen, dass die österreichischen Strafverfolgungsbehörden ein großes Interesse daran haben, dass Herr Benko in Österreich bleibt.

WELT: Menschen, die etwa des Handels mit Suchtmitteln verdächtigt werden, müssen häufig in U-Haft. Manager und Investoren, gegen die wegen des Betrugs mit hohen Summen ermittelt wird, bleiben hingegen häufig auf freiem Fuß. Wie gerecht verfährt die Justiz bei Wirtschaftsstraftaten?

Kert: Die U-Haft darf sowohl in Österreich als auch in Deutschland nur bei ganz bestimmten Voraussetzungen verhängt werden, nämlich bei Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr oder Tatbegehungsgefahr. Zudem muss man auch betonen, dass die U-Haft keine Strafe darstellen soll, sondern der Sicherung des Strafverfahrens dient. Fakt ist aber auch, dass in Wirtschaftsstrafverfahren in Österreich äußerst selten Untersuchungshaft verhängt wird. Wenn jemand nicht aktiv versucht zu flüchten, wird in Österreich bei solchen Delikten in der Regel keine U-Haft verhängt. Und es stimmt auch, dass bei weniger schweren Delikten als schwerem Betrug sehr wohl U-Haft verhängt wird. Der kleine mutmaßliche Drogendealer kommt in Untersuchungshaft, der große mutmaßliche Wirtschaftsstraftäter nicht. Das ist sicher eine problematische Ungleichbehandlung. Es hat aber auch mit der Besonderheit von Wirtschaftsstrafverfahren zu tun.

WELT: Haben Wirtschaftsstraftäter in Deutschland mehr zu befürchten als in Österreich?

Kert: So allgemein würde ich das nicht sagen. In puncto U-Haft gehen deutsche Staatsanwaltschaften tatsächlich teilweise anders vor als in Österreich und haben bei Betrugsvorwürfen bereits Manager in Untersuchungshaft genommen. Man denke etwa an den früheren Wirecard-Chef Markus Braun, der in München in Untersuchungshaft genommen wurde. In Österreich hätte man Herrn Braun wahrscheinlich erst bei einem aktiven Fluchtversuch in U-Haft genommen.

WELT: Wie gut sind Österreichs Gerichte für mögliche Mammutprozesse rund um den Signa-Komplex gerüstet?

Kert: Bei den Gerichten selbst sehe ich weniger Probleme. Probleme sehe ich allerdings in der österreichischen Strafprozessordnung, die nicht optimal auf solch große Wirtschaftsstrafverfahren ausgerichtet ist. Sie hat Delikte wie Raub oder Mord, also relativ einfache Straftaten, vor Augen. Für hochkomplexe gesellschaftsrechtliche Konstellationen ist sie aber nicht gemacht. Denn sie verlangt, dass Sachverhalte bis zum letzten Detail ausermittelt werden. In solchen Verfahren fast ein Ding der Unmöglichkeit. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Österreich so gut wie keine Möglichkeiten, solche großen Verfahren abzukürzen. In Deutschland gibt es etwa die Möglichkeit von Verfahrensabsprachen zwischen Verteidiger und Staatsanwaltschaften. Das geht in Österreich nicht.

WELT: Das heißt für den Fall Signa, dass eine Prozesslawine ohne absehbares Ende droht?

Kert: Das ist eines der größten Wirtschaftsstrafverfahren der Nachkriegszeit. Es ist fraglich, ob die österreichische Strafprozessordnung ausreichend Instrumente vorsieht, Verfahren rund um die mehr als tausend verschachtelten Signa-Gesellschaften effizient abzuwickeln. Wie lange sich solche Strafverfahren in Österreich hinziehen können, verdeutlicht etwa das Verfahren gegen den früheren Finanzminister Karl-Heinz Grasser wegen Untreue. Das Verfahren dauert mittlerweile mehr als 15 Jahre. Wenn ich vor meinen Studierenden über den Fall referiere, muss ich sie erst einmal darüber aufklären, wer Herr Grasser ist und welches politische Amt er einmal innehatte.

Andreas Macho ist WELT-Wirtschaftsreporter in Berlin mit den Schwerpunkten Gesundheit und Bauwirtschaft.