Bald jedes viertes Haus bedroht – Großbritanniens Hochwasser-Risiko steigt dramatisch

Tenbury Wells hat es besonders heftig getroffen, wieder einmal. Der Marktflecken in den Malvern Hills in Worcestershire, eine gute Autostunde südwestlich von Birmingham, hat in den vergangenen Jahren regelmäßig mit Überflutungen zu kämpfen. Das Flüsschen Teme, an dem der Ort liegt, gilt als einer der Flüsse mit den höchsten Strömungsgeschwindigkeiten in Großbritannien. Und er schwillt regelmäßig rasant an: Siebenmal hat Flusswasser in den vergangenen vier Jahren einen großen Teil der Stadt unter Wasser gesetzt. Auch als Sturm Bert Ende November mit hohen Windgeschwindigkeiten und starkem Regen über die Insel fegte, war in Tenbury Wells Land unter.

Immer mehr Einzelhändler würden inzwischen die Stadt verlassen, nach dem zigsten Flutschaden könnten sie sich die Versicherung nicht mehr leisten, sagte Joan Lumley der BBC. „Zu einer Geisterstadt könnte das werden.“ Die pensionierte Lehrerin musste selbst in den vergangenen fünf Jahren 11.000 Pfund (rund 13.300 Euro) für Reparaturen von Flutschäden an ihrem Cottage im Ortskern aufbringen, das in der Zeit dreimal unter Wasser stand.

Das Problem werde sich in den kommenden Jahren noch deutlich verschärfen, warnt eine Untersuchung der Environment Agency. Mitte des Jahrhunderts wird jede vierte Immobilie im Land durch Wasserschäden als Folge von Hochwasser bedroht, belegen aktuelle Berechnungen der Umweltagentur. Schon heute sind 6,3 Millionen Gebäude in Gefahr, überflutet zu werden. Gefahren lauern an den Küsten, entlang von Flüssen, die über die Ufer treten oder wenn Sturzfluten die Kanalisation überlasten. Steigende Temperaturen und damit verbunden heftige Stürme und Starkregen dürften die Zahl im kommenden Vierteljahrhundert auf acht Millionen gefährdete Gebäude steigen lassen.

Zum ersten Mal hat die Behörde für ihre „nationale Einschätzung des Überschwemmungsrisikos“ Projektionen des meteorologischen Amtes zu den Auswirkungen des Klimawandels, unter anderem höhere Temperaturen herangezogen. „Die Frequenz und die Härte der Überflutungsfälle, die wir zuletzt erlebt haben, dürften immer herausfordernder werden“, sagte Julie Foley, als Direktorin zuständig für Strategien gegen Flutrisiken bei der Environment Agency. „Das Land mit den besten verfügbaren Informationen zu den Risiken von Überflutung und Küstenerosion zu versorgen ist wesentlich, um sicherzustellen, dass politische Entscheider, Praktiker und Gemeinden sich einstellen können auf Fluten und Veränderungen der Küsten.“

2024 wurden einmal mehr die bisherigen Temperaturrekorde gebrochen. Im Schnitt lagen die Temperaturen im globalen Durchschnitt um 1,5 Grad Celsius über dem Mittel der vorindustriellen Zeit zwischen 1850 und 1900. Höhere Temperaturen führen dazu, dass die Luft mehr Feuchtigkeit speichern kann, die sich häufig in besonders heftigen Regenschauern wieder entlädt. „Der Klimawandel sorgt dafür, dass pro Grad Erwärmung sieben Prozent mehr Feuchtigkeit in der Luft aufgenommen wird, wodurch außerordentliche Regenfälle immer öfter auftreten“, erläuterte Tobias Grimm, leitender Klimawissenschaftler der Rückversicherung Munich Re.

Die Folgen zeigen sich in ganz Europa, wo der Anstieg der Temperaturen besonders deutlich ausgefallen ist. Die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021, schwere Überschwemmungen in großen Teilen Mittel- und Osteuropas im vergangenen September, der sintflutartige Regen im Osten Spaniens, der Ende Oktober mehr als 230 Menschenleben gekostet hat, sind nur einige Beispiele von schweren Überschwemmungen der jüngsten Vergangenheit.

„Kleinräumige Starkregenereignisse können überall auftreten“

Wissenschaftler sind überzeugt, dass diese Vorfälle keine Ausreißer sind. „Europa dürfte den Vorhersagen zufolge eine größere Häufigkeit schwerer Überflutungen sehen, potenziell mit fatalen Folgen für die Volkswirtschaften und Lebensgrundlagen“, sagte Paul Hudson, Professor für physische Geografie und Nachhaltigkeit an der Universität Leiden.

Plötzliche Sturzfluten stellen dabei eine besondere Gefahr dar. „Wir unterscheiden zwischen großräumigen Flussüberschwemmungen und kleinräumigen Sturzfluten als Folge von Starkregenereignissen“, erläuterte Munich-Re-Klimafachmann Grimm. Die Hotspots der Flussüberschwemmungen und das damit verbundene Überschwemmungsrisiko seien weitgehend bekannt. „Aber kleinräumige Starkregenereignisse können überall auftreten. Das trifft die Menschen dann oft unerwartet.“

Die britische Umweltagentur sieht die größten Gefahren für Immobilien ebenfalls durch plötzliche Sturzfluten, die verschärft werden durch Flächenversiegelung und eine Überlastung der Kanalisation. 4,6 Millionen Immobilien gelten dadurch aktuell als gefährdet, 43 Prozent mehr als bei der vorherigen Bewertung 2018. Der deutliche Anstieg sei aber nicht in erster Linie auf eine Verschärfung der Gefahrenlage zurückzuführen, sondern spiegele die deutlich erweiterte Berücksichtigung vielfältiger Klimadaten.

Noch deutlicher gestiegen, um 88 Prozent, ist die Zahl der Gebäude, die über die Ufer tretende Flüsse oder Sturmfluten am Meer unter Wasser setzen. 367.900 bebaute Grundstücke sind mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu 30 im Jahr betroffen. Auf der Insel spielt auch Küstenerosion eine erhebliche Rolle. 10.100 Gebäude könnten bis Ende des Jahrhunderts dem Abbruch der häufig steilen Küsten zum Opfer fallen, hat die Environment Agency berechnet.

Vorkehrungen werden mit den zunehmenden Gefahren immer wichtiger. Doch das Risiko von Überflutungen gilt in der öffentlichen Wahrnehmung als deutlich unterschätzt. Die Kosten der verheerenden Flut im Ahrtal und an der Erft schätzt Munich Re auf rund 55 Milliarden Euro. Das Extremereignis gilt als schadensträchtigstes der deutschen Geschichte. Doch der Anteil der versicherten Verluste war mit 14 Milliarden Euro deutlich überschaubarer.

Das gleiche Missverhältnis herrscht auch anderswo. Von 47,8 Milliarden US-Dollar (rund 46 Milliarden Euro) Flutschäden weltweit im Jahr 2023 waren 11,2 Milliarden Dollar – und damit weniger als ein Viertel – versichert.

Mit der Häufung von Extremereignissen dürfte es allerdings für Hauseigentümer nicht einfacher werden, Versicherungsschutz zu bekommen, weil auch für Versicherer die Schäden immer kostspieliger werden. Im US-Bundesstaat Kalifornien zeichnet der Versicherer State Farm seit dem Sommer 2023 keine Gebäudeversicherungen mehr und verweist zur Begründung auf das gestiegene Katastrophenrisiko, hohe Baukosten und den schwierigen Rückversicherungsmarkt.

Versicherte sollen selbst Vorsorgemaßnahmen ergreifen

Private Versicherer verlangen für den Schutz gegen Elementargefahren wie Überschwemmungen Prämien, die dem ermittelten Risiko entsprechen. Wichtig sei aber, dass der Versicherte einen Anreiz habe, selbst Vorsorgemaßnahmen zu treffen, sagte Grimm. „In den kommenden Jahren wird es immer wichtiger werden, mehr in Prävention und Anpassung zu investieren, anstatt sich vor allem auf die Verfügbarkeit von Versicherungen zu konzentrieren.“

Eine wichtige Aufgabe des Staates sei, die strukturelle Prävention voranzutreiben. Dazu gehört, neue Bauprojekte in Hochrisikogebieten nicht zu genehmigen, aber auch bestehende Gebäude besser zu schützen, etwa durch bauliche Maßnahmen oder die Schaffung von natürlichen Überschwemmungsgebieten.

In Großbritannien hat die Regierung im aktuellen Haushalt 2,4 Milliarden Pfund (rund 2,9 Milliarden Euro) für den Ausbau des Flutschutzes im Land in den kommenden zwei Jahren bereitgestellt. Doch in Tenbury Wells will sich Joan Lumley darauf nicht verlassen. Ihr Haus steht zum Verkauf.