CDU-Chef Friedrich Merz (68) will in der Asyl-Krise zu drastischen Maßnahmen greifen und eine „nationale Notlage“ ausrufen. DAS BEDEUTET: Deutschland würde die Asyl-Krise nach den eigenen Gesetzen regeln, selbst wenn das im Widerspruch zu EU-Recht stehen sollte.
Konkret fordert Merz: Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen – obwohl nach EU-Recht ein anderer Mitgliedstaat für ihr Asylverfahren zuständig wäre, sollen an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden.
„Alle, die an den deutschen Außengrenzen einen Asylantrag stellen, sind also mindestens ein Land in Europa zu weit gereist“, so Merz. „Deswegen können wir sie zurückweisen.“
► Fakt ist: Innerhalb der EU regelt die Dublin-Verordnung, welches Land für die Asylverfahren Ankommender zuständig ist – nämlich das Land, in dem sie erstmals europäischen Boden betreten. Viele Menschen reisen allerdings weiter nach Deutschland, z.B. weil sie hier auf eine bessere staatliche Versorgung hoffen. Zwar hat Deutschland dann das Recht, diese Menschen zurückzuschicken. ABER: Viele Länder, wie Italien oder Griechenland, halten sich nicht an die Regeln und verweigern die Rücknahme.
Merz fordert jetzt deutlich: Europa muss klären, dass dieses Dublin-System funktioniert!
Wenn nicht, dann Merz’ klare Drohung: Dann hätte Deutschland nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) das Recht – oder wie Merz sogar sagt, „die Pflicht“ – eine nationale Notlage ausrufen.
Verfassungsexperte: „Drastische, aber zumindest kurzfristig sinnvolle Maßnahme“
„Das bedeutet, Deutschland würde sich selbst nicht mehr an das geltende EU-Recht halten, sondern sein eigenes Ding machen“, erklärt Verfassungsexperte Volker Boehme-Neßler (61, Uni Oldenburg).
KLARTEXT: Das wäre eine Asyl-Wende: Deutschland würde seine Grenzen dichtmachen!
„Das wäre eine drastische, aber zumindest kurzfristig sinnvolle Maßnahme“, wertet Boehme-Neßler. „Denn Deutschland könnte so die Flüchtlingszahlen begrenzen und gleichzeitig Druck innerhalb der EU ausüben, ein funktionierendes Verteilungssystem zu schaffen.“
► Voraussetzung, um eine nationale Notlage auszurufen: Regierung und Parlament müssten sich einig sein!
Um Flüchtlinge an den Außengrenzen zurückzuweisen, bräuchte es außerdem entsprechende nationale Regelungen. Und: Gegenüber der Europäischen Kommission müsste Deutschland begründen können, warum die Asyl-Krise hier die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet.
Boehme-Neßler zuversichtlich: „Die Corona-Krise hat gezeigt: Wenn die Bundesregierung nur will, lässt sich so etwas schnell umsetzen.“
Der Verfassungsexperte sagt aber auch: „Längerfristig würde Deutschlands Alleingang die Asyl-Situation innerhalb der EU verschlimmern.“
„Notlage“ kein Begriff des Verfassungsrechts
Und Staatsrechtler Prof. Paul Kirchhof (81) sagt zu BILD: „Friedrich Merz beruft sich wohl auf Art. 78 AEUV. Dieser erlaubt es dem Europäischen Rat, auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen für einen Mitgliedstaat zu erlassen, der aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in eine Notlage geraten ist.“
Kirchhoff: „Der Clou bei der Sache ist: Diese Vorschrift befugt zu Schutzmaßnahmen für einen einzelnen Mitgliedstaat. Mit dem Begriff der Notlage werden nach dem Grundgesetz aber keine neuen Gesetzgebungsmöglichkeiten geöffnet.“
Und weiter: „Im Grundgesetz selbst gibt es die ‚Notlage‘ nur als Haushaltsnotlage, es ist sonst kein Begriff des deutschen Verfassungsrechts.“