Anklage, Kampfansage, Stoßseufzer

Ganz am
Ende von Aslı Özarslans Drama entlässt die Hauptfigur Hazal ihr
Publikum mit einem Blick, den man lange nicht vergisst. In der finalen Sequenz
steht sie am Bosporus, atmet schwer, scheint alles loszulassen, was sie in den
vergangenen anderthalb Filmstunden erlebt hat. Dann schaut sie in die Kamera,
ein paar unendliche Sekunden lang, enttäuscht und abgegessen, aber auch
unverbrüchlich renitent, ein Ausdruck zwischen „Seid ihr jetzt zufrieden?“ und „Guckt nicht so doof, sonst gibt’s Prügel“. Anklage, Kampfansage, Stoßseufzer,
all das ist dieser Film.

Hazal Akgündüz‘
Geschichte endet in Istanbul und beginnt
im rauen Norden von Berlin. Dort wächst sie auf mit ihrer strengen
Familie, dort erlebt sie Zusammenhalt mit ihren Freundinnen, aber auch immer
wieder das, was man als Mikroaggressionen bezeichnet: kleine, aber deutliche
Signale der Mehrheitsgesellschaft, als Deutschtürkin nicht erwünscht zu sein.
Als sie sich um einen Ausbildungsplatz bemüht, wird ihr mit einem hochmütigen Verweis
auf ihre angeblich dürftige Allgemeinbildung ein Praktikum angeboten. Weiße Mädchen im geschmackvoll schlichten Look höherer
Töchter lachen über sie und ihre ruppige, stark geschminkte Freundin Elma (Jamilah
Bagdach). Selbst automatische Glastüren öffnen sich nicht für Hazal,
in einer Szene ganz bildlich.

Für die
Regisseurin Aslı Özarslan ist die erste Spielfilmarbeit, bisher
drehte sie vor allem preisgekrönte Dokumentationen, etwa über
die jüngste Bürgermeisterin der Türkei. Man hat es hier mit einer Filmemacherin
zu tun, die sehr genau hinschaut. Wohl deshalb sieht das prekäre Großstadtleben
der Familie Akgündüz anders aus
als die Milieufolklore in vielen anderen Filmen. Die Zuschauerin wartet
mit Hazal und ihren Freundinnen vor dubiosen Schmuddelbars, wie es sie in
Berlin-Wedding nun einmal gibt, doch auf viele typische Insignien sogenannter
Problemviertel verzichtet Özarslan: Man sieht keine finsteren Männergangs,
keine Kamerafahrten über Plattenbausteppen und keine vergilbten Gardinen –
Hazal lebt in blitzsauberer Enge. Wenn die Verwandtschaft zu Gast ist, steht
auf dem Tisch das beste Geschirr und die sahnigste Sahnetorte, aber eben auch
Cola aus dem Discounter.

Ein Fixpunkt
in Hazals Leben ist ihre Tante Semra (Mina Özlem Sağdiç), die als
Sozialarbeiterin tätig ist. Während ihre Mutter sie in eine Friseurlehre
drängen will, bestärkt Hazals Tante sie, ihr Abitur nachzuholen. Semras helles,
mit Ausstellungsplakaten behängtes Appartement sieht aus, als wisse seine
Bewohnerin, was „postmigrantisches Theater“ und „intersektionale Perspektiven“
sind. Hazal hingegen muss noch eine Sprache für ihr Gefühl der Ohnmacht und Wut
finden.

Ausgedacht
hat sich diese wütende junge Frau die Journalistin und Schriftstellerin Fatma
Aydemir, 2017 veröffentlichte sie die Romanvorlage für den Film. Ob seines
rauen Tons wurde das Buch seinerzeit von vielen Kritikerinnen hochgelobt. Der
Drastik der Vorlage verleiht die Darstellerin Melia Kara, die bei einem
Straßencasting entdeckt wurde, eine eindrückliche Gestalt: Furios poltert sie
sich den Weg frei, seltsam eckig, vorsichtig tastend umschleicht sie später den
Schaden, den ihr Agieren hinterlässt. Mit ihrem stolz vorgereckten Kinn sieht
sie aus, als habe sie früh so hart werden wollen oder müssen, weil sie in
Deutschland ständig gegen Mauern rennt. Selbst dann, wenn sie gar nichts will
von diesem Land außer einer Nacht Zerstreuung – am Abend ihres 18. Geburtstags etwa.
Hazal und ihre Freundinnen bereiten sich rauchend und trinkend auf einen Besuch
im angesagtesten Club der Stadt vor. Doch schon als die nervösen Mädchen in
ihren Stöckelschuhen in der Schlange neben Publikum mit Piercings, Sneakers und
geometrischen Haarschnitten stehen, ahnt man: Das wird wohl nichts. „Heute nur für Stammgäste“,
sagt der Türsteher.

All ihre
Mühe beim Ondulieren, all das Taschengeld für Glitzerkleider war umsonst. Die
sorgsam aufgerüschten Mädchen aus den Sozialwohnungen werden abgewiesen,
während man die Zeitgeistkundige
im Prekariatskostüm an ihnen vorbei in den exklusiven Club lotst: Ein
besseres Bild für die harte Tür der Klassengesellschaft mit ihren absurden
Codes und Gesetzmäßigkeiten gibt es nicht. Als dann ein Bewohner dieser nahen,
fernen Berliner Welt, ein blonder Studententyp mit Man-Bun, Hazal und ihre
Freundinnen nach der Abfuhr im U-Bahnhof belästigt, schmoren den Mädchen die
Sicherungen durch. Aus Gepöbel wird Notwehr, aus Notwehr kalte Raserei. Am Ende
liegt der Mann leblos auf den Gleisen, und Hazal, die ihn gestoßen hat, sitzt
im Bus nach Istanbul.

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