Sie rollen genervt mit den Augen. Sie beäugen sich misstrauisch. Sie sind so was von durch miteinander.
Und doch sind Kanzler Olaf Scholz (66, SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (55, Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (45, FDP) immer noch gefangen in ihrer Streit-Regierung.
Am Freitagnachmittag: der Knall! Lindners Wirtschaftswende-Papier wurde öffentlich. Das Ganze: eine Giftliste für SPD und Grüne. Denn der Finanzminister will die grüne Klimapolitik und die rote Sozialpolitik weitgehend abräumen.
Entsetzen auch bei der FDP: Lindner hatte sein 18-Seiten-Werk nach BILD-Informationen am Donnerstagabend nur an Scholz und Habeck gemailt. Vertraulich.
Als das Papier dann ungeplant in der Hauptstadt rumgereicht wurde, begannen die Beschuldigungen. Lindner schwor: Er habe es nicht durchgestochen. Die FDP verdächtigte Habeck – spricht gar offen von Verrat! Die Grünen wiederum zeigten auf die FDP.
Das übliche Ampel-Theater. Jeder spielte seine Rolle. Aber jedem war da schon klar, das ist eine neue Eskalationsstufe: DIESE AMPEL STEHT AM ABGRUND!
CSU-Chef Markus Söder (57) fordert „Neuwahlen – sofort“! Söder zu BILD am SONNTAG: „Es ist vorbei: Das Totenglöckchen der Ampel läutet. Es ist Zeit, den Stecker zu ziehen.“
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann (47): „Wir können uns diese Wackelregierung nicht einen Tag länger leisten.“
Nach außen gaben sich SPD und Grüne zunächst gelassen. Habeck ließ BILD am SONNTAG ausrichten, er habe das Papier „zur Kenntnis genommen“.
SPD-Chefin Saskia Esken (63) erteilte Lindner „durch die Bank“ eine Absage.
Am Rande einer SPD-Veranstaltung in Hamburg zog sie am Samstagabend durch: Auf die Regierungsarbeit der Ampel werde das Papier keinen Einfluss haben. „Die Motivation ist möglicherweise da, aber es wird nicht gelingen.“
Und dann sagte sie einen Satz, der verdammt nach Ampel-Ende klingt: „Niemand will im Augenblick eine Prognose wagen, wann genau die nächste Bundestagswahl stattfindet.“ Sie gesteht: „In der Koalition (…) brennt gerade die Hütte.“
Eskens Taktik: Der Ball muss zurück zu Lindner. Hauptsache weg von Scholz. Der Kanzler spielt auf Zeit.
Er hofft noch immer, bis zum nächsten September die große Wende für seine Partei zu schaffen. Aber es wird eng: Anfang nächster Woche trifft er sich zweimal mit Habeck und Lindner zum Sechs-Augen-Gespräch. Die Koalitionspartner wollen ausloten, was noch geht. Die Treffen – Vorbereitung für den Koalitionsausschuss am Mittwochabend. Und da droht tatsächlich das Ampel-Aus.
Denn: Die FDP macht das Lindner-Papier ausdrücklich zur Grundlage für ihren Ampel-Verbleib.
FDP-Präsidiumsmitglied Thorsten Herbst (51) spricht offen aus, was andere Granden nur im Vertrauen sagen: „Sollte es keine grundsätzliche Richtungsänderung in der Wirtschaftspolitik geben, gibt es keine Basis für einen Bundeshaushalt und damit keine Grundlage mehr für diese Regierung“, so Herbst zu BILD.
Lindners Hoffnung: Wenn er die Deutschen von der Ampel – also der unbeliebtesten Bundesregierung aller Zeiten – erlöst, könnte das seine Partei noch retten.
Doch den Ampel-Crash kann er nicht vor dem Koalitions-Gipfel am Mittwoch vollziehen. Schuld müssen die anderen sein. Er muss alles versucht haben – bis zum bitteren Ende.
So lange lautet die FDP-Parole: unschuldiges Pfeifen im Walde. So wie FDP-Fraktionschef Christian Dürr (47). Der beteuert gegenüber BILD: Lindners Vorschlag „ist ein ehrliches Angebot“.
Lindners persönlicher ökonomischer Berater Lars Feld (58), macht im „Handelsblatt“ klar: „Wenn SPD und Grüne weit genug entgegenkommen, muss die Koalition nicht platzen.“
Doch Scholz muss nicht. Sagt auch Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel (65, SPD) zu BILD am SONNTAG: „Olaf Scholz kann gelassen bleiben. Er kann das Papier von Herrn Lindner einfach in die Beratung der Bundesregierung geben. Und wenn Herr Lindner Mut hat, dann sollte er das zulassen.“
Und Scholz will nicht. Denn er spielt seine neue Rolle als Retter der deutschen Industrie erst seit wenigen Tagen. Er braucht also die elf Monate bis zur Bundestagswahl, um Erfolge vorzuweisen, die Wähler von ihm überzeugen. Und Scholz braucht Zeit:
► Denn das mit ihm und der Wirtschaft – das wird schwer: Nach einer Umfrage des Beratungskonzerns EY will fast jedes zweite deutsche Industrieunternehmen (45 Prozent) ins Ausland expandieren. In Deutschland planen nur 13 Prozent, neue Standorte aufzubauen.
► Auch mit Scholz und den Deutschen ist es so ein Problem, dass sich schnell nicht beheben lässt: Seine SPD dümpelt bei 16 Prozent (Union: 32 %).
Vorteil Scholz: Er mag politisch schwach wie eine Maus sein, juristisch ist er bärenstark. Selbst wenn er durch einen Austritt der FDP aus der Koalition seine Mehrheit im Bundestag verlieren sollte, könnte niemand ihn zwingen, die Vertrauensfrage zu stellen.
Stürzen könnte den Kanzler nur eine Mehrheit für einen neuen Kanzler in einer neuen Koalition („konstruktives Misstrauensvotum“).
Dafür müssten Union, Grüne und FDP Friedrich Merz wählen. Dass die Grünen das Lager wechseln, gilt vor einer regulären Wahl als ausgeschlossen.
Heißt: Wenn der Kanzler stur bleibt, muss Lindner selbst den Stecker ziehen. Wenn er es diesmal ernst meint …