Am Ende war sie enttäuscht

Margot Friedländer ist gestorben, und die Frage, die mich seitdem beschäftigt, die mich nachts wach hält, die mich tagsüber vom Arbeiten abhält, lautet: Was bedeutet das? Was wird bleiben von ihrem einhundertdreijährigen Leben? Was wird bleiben von ihren Worten? Diesen so einfachen, so klaren Worten, die mit einer ungeheuren Präzision, wie Pfeile, sich in unsere Herzen und Köpfe bohrten? „Seid Menschen.“ Was bedeutet dieser Auftrag für mich, für uns, jetzt, wo sie nicht mehr lebt? Was bedeuten diese Worte in einer Zeit, in der die verbliebenen Juden, die die Schoah überlebten, nach und nach ihre letzte Ruhe finden?

Als ich Margot Friedländer zum ersten Mal begegnete, habe ich mir genau diese Fragen intuitiv schon gestellt. Sie war die erste Überlebende des Holocausts, die ich persönlich treffen durfte. Ihre Erscheinung war ein Wunder. Ihre so wachen, neugierigen, mich herausfordernden großen Augen waren wie hell leuchtende Sterne, die direkt durch mich hindurchsahen und unaufhörlich fragten: „Was beschäftigt dich? Wie gehst du mit der Gegenwart um? Was tust du? Wer bist du?“

Margot war weich, sie war unglaublich zart, sie war höflich, sie war zuvorkommend. Aber Margot war auch eine permanente Herausforderung. Ihre mahnenden Worte, „Seid Menschen“, die so viele Deutsche so gern hörten und ständig und überall zitierten, waren auf den ersten Blick weich und versöhnend. Wer aber Margot besser kannte, ihre Enttäuschung, die sie nicht immer öffentlich zeigte, und auch ihre Verbitterung und Traurigkeit darüber, wie sehr sich wieder verbale und physische Entmenschlichung breitmacht, dem war immer klar: Hier spricht eine deutsche Jüdin, die ein Jahrhundertleben gelebt hat, die Grausamstes erfahren musste, und diese Jüdin ist von ihrem Deutschland, das sie fürchten gelernt hatte und dem sie sich nach dem Tod ihres Mannes seit 2010 wieder annäherte, vielleicht zu beiderseitiger Überraschung, enttäuscht.

Hinter der Bühne, ohne Rampenlicht, ohne Publikum, sprachen wir oft über diese Enttäuschung. „Warum sind sie so? Haben sie denn nichts gelernt? Es ist doch nicht schwer, Mensch zu sein, menschlich zu bleiben. Warum ist es wieder so? Ich bin traurig.“ Diese Sätze hörte ich häufig. Einmal, nach einer Veranstaltung im Berliner Bode-Museum, bei der ihr die Mevlüde-Genç-Medaille verliehen wurde, habe ich sie gefragt, weshalb sie diese Fragen, diese harten, traurigen Fragen, in denen auch so viel Einsamkeit steckte, warum sie diese Fragen den Deutschen, die sie doch so verehrten und liebten und auf Händen trugen, nicht offen und direkt stellte. Da schaute sie mich an, ihre großen, weichen Augen trafen meine, und sagte: „Aber Igor, ich bin doch so müde. Ich habe doch die Kraft nicht mehr.“

Für mich steckte in dieser Antwort eine ganze Welt; wenn ich mich an diese Situation erinnere, kommen mir die Tränen. Margot hatte für diesen Kampf, für diesen Schmerz die Kraft nicht mehr. Ihre gesamte Lebensenergie verwendete sie darauf, sich zu verschenken. Sie gab den Menschen, die ihr zuhörten, mehr Raum als sich selbst. Ihre Enttäuschung und Traurigkeit haben ihre Wärme und Liebe zu den Menschen nie kleiner werden lassen. Das allein schon machte sie zu einem Wunder an Menschlichkeit.

Margot Friedländer, die Jahrhundertdeutsche, die zurückkehrte, hat häufig davon gesprochen, wie der deutsche Absturz in den dunkelsten Abgrund des 20. Jahrhunderts begann. „So hat es damals auch angefangen“, sagte sie häufig, als es um die neuen, modernen Formen der Entmenschlichung ging. „Es fing im Kleinen an“, sagte sie dann. Ich habe viel über diesen Satz nachgedacht. Was ist dieses „im Kleinen“? Und mir kamen all die Diskursverschiebungen, speziell seit 2015, in den Sinn. Wie Teile der deutschen Öffentlichkeit mehr und mehr daran arbeiteten und arbeiten, das Land nach rechts zu rücken. Es wurde ernsthaft darüber debattiert, wie Alexander Gauland seinen Vogelschiss-Satz gemeint haben könnte. Das Mantra des „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ wurde immer mehr als Instrument genutzt, Menschen zu Menschen zweiter oder gar dritter Klasse zu machen. Mittlerweile sind wir an einem Punkt angekommen, wo im deutschen Fernsehen einer Debatte Raum gegeben wird, ob Adolf Hitler nun ein Linker war oder ein Rechter. Zu oft wurden Geflüchtete pauschal entmenschlicht, im Übrigen von denselben Akteuren, die ihren Judenhass in Parolen über sogenannte Globalisten und „das internationale Bank- und Finanzwesen“ umwandelten.

Häufig verließ ich Gespräche mit Margot mit einem ungeheuren Gefühl von Scham. Und Wut. Deutschland hatte dieser Frau doch versprochen, dass es Entmenschlichung „nie wieder“ geben werde, dass offener Judenhass nie wieder Platz haben werde. Und nun, am Ende ihres Lebens, musste sie feststellen, dass Deutschland im Begriff war, dieses Versprechen zu brechen. Ich habe mich geschämt. Geschämt als Mensch dieser Gegenwart.

Ich erinnere mich, wie wir einige Wochen nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel, dem Tag des schlimmsten Verbrechens an jüdischem Leben seit der Schoah, über dieses albtraumhafte Ereignis sprachen. Margot kam ins Berliner Ensemble und war Teil eines Solidaritätskonzertes, das Michel Friedman und ich gemeinsam mit dem Theater auf die Bühne brachten. Wir alle waren verstört. Uns allen hat dieser Tag den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Bilder aus Israel, die schier unerträglichen Berichte der Opfer und die gleichzeitig stattfindenden lauten Freudengesänge derer, die auf den Straßen Berlins die Hamas für ihre Morde feierten, all das war eigentlich nicht zu ertragen.

Sie musste das doch auch mitansehen! Die Angriffe auf jüdische Friedhöfe, auf Synagogen, auf Schulen. Sie hat diese Nachrichten doch auch alle lesen können. Und trotzdem, trotzdem schaffte sie es, jene Größe, Wärme und Liebe zu wahren, die kleine und große Räume in Sekundengeschwindigkeit verwandelten. Da war sie, Margot, ging auf die Bühne des BE und sagte einfach: Seid Menschen. Liebe, Wärme, Großzügigkeit. Trotz allem. Oder gerade deshalb. Ich stand hinter der Bühne und war sprachlos ob ihrer wundervollen Geste.

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