ZEIT ONLINE: Herr Schobin, in Ihrem aktuellen Buch
nähern Sie sich dem gesellschaftlichen Problemthema Einsamkeit mal nicht über
die quantitative Sozialforschung, sondern über die biografischen Erzählungen
einsamer Menschen. Was haben Sie bei Ihren Recherchen und Gesprächen über
Einsamkeit in Deutschland gelernt?
Janosch Schobin: Die Art, wie wir über Einsamkeit denken
und sprechen, ist tatsächlich häufig stark von Stereotypen und von Stigmata geprägt.
In meiner Forschung bitte ich die Interviewpartner:innen immer, ein Bild von
ihrer Einsamkeit zu malen und sie mit eigenen Worten zu beschreiben. In
Deutschland sind das vor allem Bilder der Verzweiflung und der Machtlosigkeit: So
als sei man in einem Eisenkäfig gefangen, rüttele vergeblich an den Stäben und
werde nicht gehört.
ZEIT ONLINE: Das klingt drastisch. Wie verbreitet ist
Einsamkeit in Deutschland?
Schobin: Sehr selten ist den Statistiken zufolge die krasse
Vereinsamung. In diesem Fall tritt neben eine starke Empfindung von Einsamkeit
die Erosion des gesamten Beziehungsnetzes. Ein Beispiel wäre eine Witwe, die
mit dem Tod ihres Ehemanns die letzte nahestehende Bezugsperson verloren hat. Von
moderater Einsamkeit ist dagegen ein recht großer Teil der Bevölkerung
betroffen. So empfindet etwa ein Drittel der Deutschen zumindest sporadisch Gefühle
der Einsamkeit. Das sind vermehrt auch junge Menschen unter 30. Im Prinzip kann
jeder einsam sein.
ZEIT ONLINE: Was genau versteht die wissenschaftliche
Forschung unter Einsamkeit? Wie wird sie definiert?
Schobin: Als individuell empfundenes Missverhältnis
zwischen den bestehenden Beziehungen und den Beziehungsbedürfnissen; wenn man
also merkt: Mit den eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen stimmt etwas nicht
– man hat nicht das, was man sich wünscht oder braucht. Das kann sich nicht nur
auf die Anzahl an Menschen im eigenen Umfeld beziehen, sondern auch auf die
Qualität von zwischenmenschlichen Beziehungen. Manche Menschen fühlen sich etwa
trotz Partnerschaft und einer großen Familie einsam.
ZEIT ONLINE: Könnte man sagen: Einsamkeit ähnelt einer Schmerzreaktion?
Schobin: Absolut. Indem Einsamkeitsgefühle anzeigen, hier
stimmt etwas nicht, dienen sie zunächst dem eigenen Schutz. Manche Menschen „betäuben“
ihre Einsamkeitsempfindungen deshalb auch durch Alkoholkonsum oder andere dämpfende
Substanzen. Oder sie versuchen, den Einsamkeitsschmerz durch Ablenkung wie
Musik oder anderen medialen Konsum abzumildern. Einsamkeit kann uns aber auch dazu
motivieren, aktiv ins soziale Leben einzutauchen und nach anderen und neuen Verbindungen
und Beziehungen zu suchen oder bestehende zu verbessern. Klappt das, haben
Einsamkeitsempfindungen mittel- und langfristig sogar ihr Gutes.
ZEIT ONLINE: Einsamkeitserfahrungen als Ansporn zu nutzen,
um Veränderungen herbeizuführen, setzt allerdings eine gewisse Resilienz
voraus. Dass die Bundesregierung Ende 2023 eine Strategie gegen Einsamkeit
verabschiedet hat, zeigt jedoch: Vielen Menschen, die sich einsam fühlen, gelingt
es nicht, sich selbst zu helfen. Was hat die Strategie der Bundesregierung bisher
bewirkt?
Schobin: Vor allem hat sie Aufmerksamkeit für das Thema
geschaffen. Durch die dazugehörige öffentliche Kampagne sowie die
Veröffentlichung einer Studie zur Langzeitentwicklung von
Einsamkeitsbelastungen in Deutschland wurde Einsamkeit als gesellschaftlich und
politisch relevantes Problem anerkannt. Damit hat die Bundesregierung ein Stück
weit dazu beigetragen, Einsamkeit zu enttabuisieren. Das ist ein sehr
wichtiger, erster Schritt.
ZEIT ONLINE: Was von diesen Bemühungen sickert bis in die
Kommunen und Bundesländer durch?
Schobin: Viele Kommunen haben bereits gut ausgebaute
Angebote – gerade für ältere Menschen. Ein Beispiel dafür ist der Verein Freunde
Alter Menschen mit seinen Besuchspatenschaften älterer, weniger mobiler Menschen in
München, Berlin oder Frankfurt am Main. Gleichzeitig beobachte ich vielerorts unübersichtliche
Doppelstrukturen. Häufig gibt es gleich mehrere Akteure mit mindestens sehr ähnlichen
Angeboten. Oder man weiß nicht genau, was die anderen Akteure konkret machen
oder planen. Darüber hinaus gibt es nach wie vor Zielgruppen, die strukturell durchs
Raster fallen.
ZEIT ONLINE: Welche Gruppen sind das?
Schobin: Vor allem berufstätige Menschen mittleren Alters.
Wer nicht krank, alt oder im klassischen Sinne bedürftig ist, der wird vom
deutschen Wohlfahrtssystem in der Regel nicht bedacht. Genau das aber ist bei
der Vereinsamung ein großes Problem. Sie schleicht sich langsam in das Leben
von Leuten, die von außen betrachtet „funktionieren“. Insgesamt bräuchten wir
in Deutschland eine stärkere Verzahnung zwischen dem Gesundheitssystem und dem
sozialen Sektor. In Großbritannien etwa ist man in dieser Hinsicht weiter. Dort
werden medizinische Patient:innen viel häufiger an Angebote zur Förderung des
sozialen Wohlbefindens vermittelt.
ZEIT ONLINE: Eine wesentliche Grundlage Ihres neuen Buches sind 71 qualitative Interviews. Ihre Auswahl umfasst
auch Porträts von Menschen aus nicht westlichen Gesellschaften. Ist Einsamkeit
wirklich ein „universelles Gefühl“, wie es der Untertitel Ihres Buches nahelegt?
Schobin: Was Einsamkeit ist, wissen die Menschen
vermutlich überall und zumindest temporär dürften damit äußerst viele Erfahrungen
gemacht haben. In manchen Gesellschaften ist Einsamkeit allerdings stärker
ausgeprägt und wird im gesellschaftlichen Diskurs ganz anders geframet. In
Chile etwa, wo ich viel geforscht habe, gilt Einsamkeit sehr häufig als Lebensprüfung.
Sie wird dann weniger mit Vorstellungen eines „eisernen Käfigs“, sondern eher
mit Bildern wie „eine Blume in der Wüste“ beschrieben und ist durchaus religiös
konnotiert. Wer die Prüfung der Einsamkeit besteht, der wird als Person erhöht.