Alphas essen Menschenfleisch

Während der Corona-Lockdowns geisterten die Eröffnungsszenen von Danny Boyles Endzeitfilm von 2002 immer wieder durchs Internet. Denn die Bilder dieses menschenleeren, geisterhaften Londons glichen 2020 vielerorts dem Blick aus dem Fenster.

Alex Garland konnte von Corona noch nichts wissen, als er damals das Drehbuch schrieb, und nahm doch manches vorweg: handelt von einer gefährlichen Viruserkrankung, die vom Tier auf den Menschen überspringt und sich dann rasend schnell ausbreitet. Immerhin: Raserei und Kannibalismus sind keine Symptome der bisherigen Covid-19-Mutationen. Und er handelt davon, wie die Menschen mit dieser Krise umgehen: Manche bemühen sich um Zusammenhalt, andere bewaffnen sich. 

Nun haben Boyle und Garland mit der Erfahrung einer realen Pandemie ihre Erzählung fortgesetzt. blickt besonders weit in die Zukunft und widmet sich somit einer Frage, die die Menschheit in Wirklichkeit noch nicht hat beantworten müssen: Wie könnte eine dauerhafte „neue Normalität“ aussehen?

Eine spektakuläre Eröffnungsszene gibt’s auch diesmal: Die laufen. Eine Gruppe verängstigter Kinder klammert sich ans tröstende Flimmern des Fernsehers. Im Hintergrund fressen bereits Zombies ihre Eltern. Ein Junge flieht in eine Kirche. Bald brechen auch dort Infizierte durch die bemalten hohen Fenster ins Innere. Die alten Institutionen gibt es nicht mehr, scheint dieses Intro zu sagen. Nichts ist mehr heilig, nichts mehr unschuldig. Alles ist nun möglich.

Zumindest auf den Britischen Inseln: 28 Jahre später hat in diesem Fall Europa den Brexit vollzogen, Großbritannien abgekoppelt und zusammen mit seinen Zombies unter Dauerquarantäne gestellt. Im Rest der Welt scheint noch die alte Normalität zu existieren. Schwedische Schiffe patrouillieren vor der Küste, damit auch kein Tropfen Speichel die Insel verlässt. 

Jamie (Aaron Taylor-Johnson) und sein zwölfjähriger Sohn Spike (Alfie Williams) leben zum Glück auf einer Insel auf der Insel, im heute schon bevölkerungsarmen Nordosten Englands. Solange kein Infizierter den schmalen Damm entdeckt, der nur bei Ebbe ihr Dorf mit dem Festland verbindet, bleibt ihre Gemeinschaft sicher. Und ermöglicht ein scheinbar idyllisches Landleben mit Speck zum Frühstück. Spikes Mutter Isla (Jodie Comer) allerdings ist krank, liegt Tag und Nacht im Bett und schreit, wenn ihr einmal wieder die Realität entgleitet. Spike selbst steht ein Initiationsritus bevor: Zusammen mit seinem Vater soll er zum ersten Mal diesen Damm überqueren, um mit Pfeil und Bogen ein paar Infizierte zu erlegen.

Die Filmreihe (2007 erschien ohne Beteiligung von Garland und Boyle) trägt das Zombielabel, auch wenn man hier streng genommen unterscheiden müsste: Die Monster sind schließlich nicht untot, sondern krank. Ihr Verwesungslook und ihr Heißhunger auf Menschenfleisch lässt sie trotzdem in diese Kategorie fallen. Auch, weil zusammen mit den Verfilmungen des Videospiels sowie etwas später der Fernsehadaption der Comicreihe  wesentlich dazu beigetragen hat, dass Zombies im 21. Jahrhundert zu populären Monstern der Popkultur geworden sind.

Dieses Vermächtnis sowie das weitere Schaffen von Danny Boyle und Alex Garland im Bereich der düsteren Zukunftsvisionen erlaubten dem Duo wohl, ihrem Studio Sony nicht nur diese späte Fortsetzung, sondern gleich eine ganze Trilogie neuer Filme zu verkaufen. Deshalb sei gleich verraten: Am Ende von bleibt manche Frage offen. Obwohl sie fürs Kino drehen, beugen sich Boyle und Garland der Logik des seriellen Erzählens.

Bis dahin zeigen sie eine Reise ins Erwachsensein des jungen Spike, die nicht mit dem archaischen Ritus endet. „Je mehr du tötest, desto leichter wird es“, empfiehlt Vater Jamie seinem Sohn. Sollten die beiden zu schnell zurückkehren, könnten die anderen Dorfbewohner sie für weich halten, fürchtet Spike. Daher tischt Jamie in der Kneipe übertriebene Heldengeschichten auf und beeindruckt damit besonders die junge Frau, mit der er eine Affäre hat. Und Spike erkennt: Es ging gar nicht um Verteidigungsfähigkeiten, zumindest nicht nur, sondern auch um Männlichkeitspunkte, eine Währung im Patriarchat, das dieses Dorf auch beim Wieder- und Neuaufbau seines gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht hat überwinden können.

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