Alles auf Anfang

C-Dur gilt als die reine, ursprüngliche Tonart. Keine
Vorzeichen. Keine schwarzen Tasten auf dem Klavier. Schon früh spielen Kinder
Mozarts . Dabei hat ein unschuldiger C-Dur-Dreiklang durchaus Konfliktpotenzial,
er kann ein Krisenherd sein. Ist das Hammerklavier wohltemperiert gestimmt oder
vielleicht mitteltönig? Wie groß ist die große Terz wirklich? Ist die reine Quinte
wirklich rein?

Als seien ihm solche harmonischen Reibereien nicht genug,
trat der Dirigent Roger Norrington eines Tages vor sein Orchester und sagte:
„Lasst mal dieses Vibrato weg!“ Damit war das Wackeln der Streicher mit den
Fingern auf dem Griffbrett gemeint, womit sie Tonhöhen minimal verändern. Solche
Schwebungen waren Norrington suspekt. Alles eine späte Zutat der
Musiziergeschichte, befand er. Er wollte es pur. Und so bekam das
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, das Norrington von 1998 bis 2011 als
Chefdirigent leitete, bald ein Alleinstellungsmerkmal: Es garantierte den
„Stuttgart Sound“.

Jetzt ist Sir Roger im Alter von 91 Jahren gestorben. Ein Mann
ohne klangliche Eigenschaften war er nie. Denn die vermeintliche Reduktion der
Ausdrucksmittel schuf einen Zugewinn an Leuchtkraft und Schärfung. Es war, als
kratzte er vom Klang eine Art Firnis ab. Haben die Musiker zu Schumanns Zeiten tatsächlich
so clean gespielt? Niemand weiß es genau. Norrington aber ging es auch um eine
dialektische Volte: das Vertraute durch das Unvertraute zu hinterfragen.

Roger Norrington, 1934 in Oxford geboren und fraglos einer
der bedeutenden Dirigenten unserer Zeit, liebte es, beim Musizieren alles auf
Anfang zu stellen. Wer mit seinem Beethoven konfrontiert wurde, wähnte sich schon
mal im falschen Film: War die Bauernreportage namens in Wahrheit
etwa ein Thriller vom Lande? Auch wer Norringtons singuläre Aufnahme von
Wagner-Ouvertüren und -Vorspielen mit den London Classical Players gehört hat, ahnt, welche Klänge der Komponist womöglich selbst
im Kopf hatte. Norrington ließ die -Ouvertüre musizieren, als
eröffne sie nicht ein vielstündiges fränkisches Liebesdrama, sondern eine federnde,
wirbelige Shakespeare-Komödie. Und sie dauert bei ihm exakt so lange, wie Wagner
es vorschwebte: gut acht Minuten nämlich. Was für ein Fest, wenn Norrington es
je ans Pult der Bayreuther Festspiele geschafft hätte! Das Publikum wäre weit
vor 22 Uhr beim Nachtschmaus gesessen. Und hätte sich vorher musikalisch königlich
amüsiert.     

Obgleich Norrington als Pionier der historischen
Aufführungspraxis galt (sein erstes Ensemble war der Schütz Choir of London),
stand er doch mit beiden Beinen im Leben – bis hin zu Werken von Gustav Mahler
oder Ralph Vaughan Williams, dessen Symphonien er sehr mochte und immer wieder
aufs Programm setzte. Dezidierte Lieblingskomponisten hatte er nicht. Und natürlich
trat er 2021, als er seine Laufbahn beendete, leise, aber mit einer
kommunikativen Pointe vom Podium ab – mit einem Abend voller Haydn-Sinfonien.
Warum das, fragte man ihn damals. Die Antwort, mit seinem berühmten
Catweazle-Zwinkern, lautete: „Wenn man Haydn gut spielt, dann gibt es keine
bessere Musik auf der Welt.“

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