DIE ZEIT: Vor 80 Jahren erschien in Schweden ein Kinderbuch, das Geschichte schreiben sollte: Wie wichtig war der Zweite Weltkrieg für die Entstehung dieses Klassikers?
Wilfried Hauke: Ohne den Krieg hätte es nicht gegeben. 1941 fängt Lindgren an, ihrer damals ewig kranken Tochter Karin die Geschichte von einem kleinen, sehr starken Mädchen zu erzählen, um ihr die Angst und die Sorgen zu nehmen. Und natürlich ist Pippi ein Gegenbild zu mächtigen Männern wie Mussolini, Stalin und Hitler, die ihre Macht missbrauchen. Ich glaube aber sogar, Lindgren wäre ohne den Krieg nicht zu einer weltberühmten Autorin geworden.
ZEIT: Warum das?
Hauke: Ihr Erzähltalent war zwar bereits ihren Lehrern in der Schule aufgefallen, aber damals sagte sie, sie wolle niemals Schriftstellerin werden. Im Krieg begann Lindgren dann, ihre Gedanken und Erlebnisse in Tagebüchern festzuhalten. Mein Eindruck ist, dass das Schreiben sie entlastet hat. Es tue ihr gut, notierte sie, mache sie sogar glücklich. Man kann an den Kriegstagebüchern erkennen, wie jemand mit einem großen literarischen Talent entdeckt, dass das Schreiben ein Heilmittel ist – für sich selbst und für andere.
ZEIT: Lindgren starb 2002, ihre Tagebücher wurden erst danach gefunden und 2015 veröffentlicht. Was hat Sie daran fasziniert?
Hauke: Ein Kollege drückte mir, dem Skandinavienkenner, das Buch damals in die Hand, aber ich dachte: Ach Gott, Lindgren. Für mich war sie die Frau, deren Geschichten ich mal meinen Kindern vorgelesen hatte. Als ich aber einen Blick hineinwarf, hat mich sofort gepackt, wie analytisch und stilistisch stark diese Frau die Weltlage beschreibt. Sie ist gut informiert und zeigt sich als politisch wache Beobachterin mit einer ausgeprägten moralisch-humanistischen Haltung. Was, fragt sie sich an einer Stelle, bewegt jemanden wie Hitler, den Menschen so viel Leid anzutun? Sie hält aber auch Alltägliches aus ihrem Familienleben fest, dass es Leberpastete und Gänsebrust gab und sie deswegen ein schlechtes Gewissen hat, weil so viele andere in Europa hungern. Sie fängt die Diskrepanz ein, im Krieg zu leben, ihn im neutralen Schweden aber nicht unmittelbar zu spüren. Die Tagebücher sind ein einzigartiges Dokument.
ZEIT: Lindgren arbeitete während des Krieges für die Zensurbehörde, las Briefe, die aus Schweden in die Welt und aus der Welt nach Schweden geschickt wurden. Wusste sie mehr als andere?
Hauke: Ja, ihr war viel früher als anderen Schweden klar, was in Deutschland passierte; sie hatte von den Deportationen jüdischer Bürger gelesen, von den Ghettos. Dadurch war sie in der Lage, die deutsche Kriegspropaganda zu durchschauen.
ZEIT: In Ihrer Verfilmung der Tagebücher arbeiten Sie mit gespielten Szenen, historischem Bildmaterial und Interviews mit Lindgrens Nachfahren. Warum diese Kombination?
Hauke: Anfangs bin ich mehrmals nach Stockholm gefahren, um Lindgrens Nachfahren von meinem Projekt zu überzeugen. Die haben mir mit freundlicher Skepsis zugehört, sich aber vermutlich gefragt: Wie will er denn ein Tagebuch verfilmen?
ZEIT: Was hatten Sie denn vor?
Hauke: Ich wollte zunächst mit Lindgrens Tochter Karin Nyman darüber sprechen, wie sie die Kriegsjahre erlebt hat. Daraus entstand die Idee, zwei weitere Generationen zu befragen. Neben der Tochter treten die Enkelin Annika Lindgren und der Urenkel Johann Palmberg auf.
ZEIT: Wir sehen auch Astrid Lindgren, gespielt von Sofia Pekkari. Diese Idee hatten Sie nicht von Beginn an?
Hauke: Nein, darauf kam ich erst nach den Interviews. Ihre Nachfahren hatten über Astrid und über die Tagebücher gesprochen, aber ich wollte dem Text einen Körper geben. Das war ein Wagnis, denn ein anderer Lindgren-Film, das Biopic von 2018, fanden die Lindgren-Erben gar nicht gut. Ich dachte daher: Das erlauben die mir nie! Sie haben dann doch zugestimmt – unter der Bedingung, dass ich ausschließlich mit den Originaltexten der Tagebücher arbeiten darf.