„Ach, dat is doch ejal heute.“

Auf der Severinsstraße in der Kölner Südstadt, kurz bevor es losgeht, gegen neun Uhr morgens, krächzt  (Da simmer dabei, dat is priiiiima!) aus einer Musikbox. Ein Mann im Clownskostüm steht vor zwei Tischen, darauf zwei kleine Fässer Kölsch und Frikadellen auf Papptellern, halbiert und aufgespießt. Der Clown erzählt, sie machten das hier, also das mit den Tischen und dem Biertrinken beim Rosenmontagszug, seit vier Generationen so. Er habe das erste Mal hier gestanden, als er noch „nit ma laufe konnt“, jetzt trägt er seinen Enkel auf dem Arm. Seine Frau bringt ein Kränzchen, eine runde Kölschglashalterung für 18 Kölschgläser. Ob was anders ist dieses Jahr? „Nää?“ Na wegen der Bundestagswahl letzte Woche? „Ach, dat is doch ejal heute.“ Sagt sie. Auf ihrem Sakko ein Button: „Hätz statt Hetze“. Hätz ist Kölsch für „Herz“.

Jede Kritik am Karneval ist leicht gesagt und oft gehört. Primitiv (wegen der Musik und des Alkohols), sexistisch (wegen der kurzen Kostüme und der Tanzmariechen), klassistisch (wegen des Mülls, den ja irgendwer auch wieder wegmachen muss), rassistisch (wegen der Indianerverkleidungen), insgesamt also ein Haufen asozialer Rheinländer. Wer dem widerspricht, versucht, das Ernsthafte am Karneval zu betonen: die politischen Statements. Die Demonstrationen. In Bonn stürme die Wäscherprinzessin das Rathaus doch an Weiberfastnacht wegen schlechter Löhne! Und in Köln sind dieses Jahr drei schwule Männer zum „Dreigestirn“ ernannt worden, also zu den Oberstars des Karnevals. Jetzt ist die „Jungfrau“ des Trios zwar immer noch keine Frau, aber wenigstens kein Hetero-Mann mehr. Ist das nicht was?

Der Karneval entzieht sich politischen Ereignissen ignorant. Kurz vor Karneval jährt sich der Angriffskrieg auf die Ukraine, kurz vor Karneval jährt sich der rassistische Anschlag in Hanau, kurz vor Karneval jährt sich der Beginn der Coronapandemie. Was im Umkehrschluss bedeutet: Kurz vor Karneval gab es mal einen Terroranschlag, eine Pandemie, einen Angriffskrieg. Und jedes Jahr wurde trotzdem danach gefeiert. Das hat den Karneval nicht beliebter gemacht, auch nicht sympathischer. Die erste deutsche Covid-Welle begann bei einer Karnevalssitzung in Gangelt! Vielen Dank auch!

Und jetzt war am Sonntag vor Weiberfastnacht eine Bundestagswahl, bei der die AfD mehr als 20 Prozent der Stimmen holte. Donald Trump stellte am Fastnachtsdienstag seine Militärhilfe für die Ukraine vorerst ein. Politiker von CDU/CSU und SPD sagten ihre Aschermittwochstermine ab, die Sondierungen für eine neue Regierungskoalition gehen vor. Am Rosenmontag passierte ein Anschlag. Es sind ernste Zeiten, was man natürlich noch nicht wissen konnte, als man das diesjährige Motto Anfang 2024 in eine Pressemitteilung schrieb: „FasteLOVEnd. Wenn Dräum widder blöhe“. Fastnacht. Wenn Träume wieder blühen. Der Zugleiter Holger Kirsch ließ sich vorab in einer Pressemitteilung zum Motto zitieren: „Der Karneval kann weder Krisen beenden noch Frieden schaffen, aber er lässt uns eine Utopie auf Zeit leben.“

Wenn die kommenden Regierungen nicht vorzeitig scheitern, wird sich die Bundestagswahl ab jetzt alle vier Jahre auf den Karneval legen wie eine schwere Wolldecke aus gesellschaftlicher Verantwortung. Symbolisch wirkte da ein Video von Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Daniel Günther (CDU), Lars Klingbeil (SPD), Mona Neubaur (Grüne) und Gregor Gysi (Linke), vor zwei Wochen, also während gleichzeitig im Fernsehen jeden Tag eine andere Wahlkampfarena lief, beim „Orden wider den tierischen Ernst“, der alljährlichen Superpolitikkarnevalsveranstaltung. Mit riesigen Brillen und albernen Hüten grölten sie zur Melodie von Helene Fischer ihre eigene Version der Atemlosigkeit: „Atemlos, Hand in Hand, woll’n wir Zuversicht fürs Land. Atemlos, schwindelfrei, kommt, seid alle mit dabei!“, Klingbeil an der Gitarre, Gysi nicht im Takt schnipsend. Als wollten sie sagen: Man wird ja wohl noch tröten dürfen!

Dann spielen sie Denn wenn et Trömmelche jeht.

Am Montagmorgen kündigt das Kölner Lokalradio den „Höhepunkt der Session“ an, die Rosenmontagszüge. Hunderttausende Zuschauer. „Ein Spektakel.“ Um kurz nach acht befragen sie einen Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperten, wie viele Sorgen man sich denn aufgrund der aktuellen Anschlagsserie nun wirklich machen müsse. Am Mittwoch vor Karneval hatte der IS auf einer Propagandaseite zu Anschlägen auf mehrere Veranstaltungen aufgerufen. Der Experte antwortet: „Es ist gut, zu feiern“, und sagt noch etwas über die Kraft des Individuums. Dann spielen sie . Köln ist so abgeriegelt und polizeiausgestattet wie nie an Karneval zuvor, mehr als 1.400 Polizisten sind im Einsatz, die Stadt hat Barrikaden errichtet, um den Zug zu schützen – wie viele und welche genau will man der Presse nicht sagen, aus Sicherheitsgründen. Draußen scheint die Sonne.

Vor dem ersten Wagen des ersten Karnevalsvereins steht eine Gruppe von Menschen, die eine Demonstration sein wollen, zwei von ihnen verstecken sich hinter Pappgesichtern von Friedrich Merz und Alice Weidel, auf ihrem Rücken tragen sie eine riesige Pappe, die aussieht wie eine Mauer, darauf kleben Schilder: „Illegale Zurückweisungen“, „Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen“, „. Ist ihnen der Karneval politisch genug? „Nein, ein paar Themen kommen hier zu wenig vor, deshalb sind wir hier.“ Es erübrigt sich, zu fragen, welche es sind. Hinter ihnen ragt eine riesige Figur mit Pappmascheekopf hervor, auf ihrer Brust steht: „DEMOKRATIE IST HANDARBEIT!“

Direkt dahinter warten vier weiße alte Männer der Blauen Funken 1870 e. V., eines der größten Kölner Karnevalsvereine, rund 600 Mitglieder, sie tragen blaue Uniform, weiße Reithose, Reitstiefel und Barockperücke. Bei einem spontanen Gesprächsversuch über das Verhältnis von Karneval und Politik verweisen sie zunächst auf ihren Pressesprecher, dann sagen sie doch noch:

„Karneval ist ja immer politisch.“

Inwiefern?

„Ja, ist halt so.“

Auf dem Chlodwigplatz sind gerade Carmen und Robert Geiss mit ihren zwei Töchtern Davina und Shania angekommen, die sogenannten Geissens also, Reality-TV-Stars. Die Menge jubelt. Die Geissens winken, umringt von Kameras und Sicherheitspersonal, das Publikum schreit „Rooooooooobert“, sie winken noch mal, bevor der Zugleiter den Countdown zählt und der Rosenmontagszug losgeht. Später werden die Geissens im RTL-Interview erzählen, dass sie stichsichere Westen trugen wegen der Unruhen dieser Tage, .

Ansonsten ist alles wie immer. Süßigkeiten werden geworfen, Süßigkeiten werden zertrampelt, kleine Kinder prügeln sich um Haribo. Der Kioskbesitzer nimmt heute nur Bargeld. Als an der ersten Tribüne der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) angekündigt wird („Der Hendrik Wüst, der kütt gleich noch“), interessiert das niemanden. Da steht ein Football-Spieler mit Herzchen-Brille und Katzenohren, sein Berentzen-Schnaps-Gürtel ist nur noch halb voll, es ist vormittags. Weiß er, wer Hendrik Wüst ist? „HÄÄÄ, NEE, WAS? ICH KOMM NICHT AUS KÖLN!“