Es wird in diesem Text immer wieder um Selbstbefreiung gehen, deshalb die beste Nachricht gleich zuerst: Die neuseeländische Sängerin und Songwriterin Ella Yelich-O’Connor, Künstlername Lorde, hat sich mit ihrem neuen, vierten Album von Jack Antonoff emanzipiert. Der Produzent von Taylor Swift und Lana Del Rey, der auch die letzten beiden Platten von Lorde mitverantwortet hatte, war an nicht beteiligt, und das hört man in jedem Moment dieser kurzen, gewaltigen Platte. Man versteht jedoch auch sehr schnell, dass noch mehr hinter Lordes Befreiung steckt.
Während der Coronapandemie, so hat es Lorde kürzlich zur US-Ausgabe des gesagt, habe sie damit begonnen, Kalorien zu zählen. Zunächst scheinbar beiläufig, um für Konzerte, Videodrehs, Fotosessions in Form zu sein, dann jedoch zunehmend zwanghaft – bis sie sich nur noch wohlgefühlt habe, wenn sie überhaupt nicht mehr gegessen habe. Ausgerechnet Lorde also, die in früheren Jahren stets betont hatte, keine gefährlichen Körperbilder reproduzieren zu wollen, hatte eine ausgewiesene Essstörung entwickelt.
erzählt von der Überwindung dieser Erkrankung, aber auch von einer grundsätzlichen Neuordnung im Leben der Künstlerin. Ihre langjährige Beziehung war vor Beginn der Arbeit an dem Album zerbrochen, Lorde setzte sich nach London ab, stellte sich selbst und ihre Arbeit schonungslos infrage. Erst entstanden aus diesem Prozess Notizen, dann Songs, dann schließlich . Das von Heji Shin fotografierte Covermotiv zeigt eine Röntgenaufnahme des Beckens von Lorde, deutlich zu sehen ist darauf auch die Verhütungsspirale, die sie sich vor einer Weile einsetzen ließ. Außerdem im Bild: eine Gürtelschnalle und ein Reißverschluss. Die Botschaft ist also gesetzt: Lorde durchleuchtet sich selbst, und die Welt guckt dabei zu.
Den Sound dazu entwickelt Lorde aus zwei Rückgriffen: vereint, zumindest in seinen besten Momenten, die großen Melodien ihres Debüts (2013) mit dem Glamour des Nachfolgers (2017) – der vergleichsweise ungeliebte, kalifornisch geprägte Pop von ist weitgehend vergessen. Stattdessen eröffnet das neue Album mit Synthesizern, die dröhnen und leiern. Klavierakkorde und ein Technobeat kommen hinzu, Lorde singt erst zaghaft, dann immer selbstbewusster: Liebe oder Eisprung – Humor hat die Künstlerin also auch.
Mit dem Titel von ist nicht Jungfräulichkeit gemeint, sondern ein neuer Idealzustand von Lorde, eine Weiblichkeit losgelöst von patriarchalen Zuschreibungen und Erwartungen. Die Musikerin ist im Rampenlicht erwachsen geworden, also eigentlich gar nicht. 2013 war sie mit dem Song die jüngste Künstlerin, die je einen Nummer-eins-Hit in den USA hatte; David Bowie bezeichnete sie als Zukunft des Pop. Heute ist Lorde 28 Jahre alt, jung immer noch und doch eine Veteranin der Musikindustrie. Die Karrieren von anderen, nur wenig jüngeren Popstars wie Billie Eilish oder Olivia Rodrigo wären ohne ihren Einfluss womöglich anders verlaufen.
Wird sie jemals wieder lieben?
Lorde selbst war immer auch Projektionsfläche für allerlei Unsinn. Zu Beginn ihrer Karriere zweifelten manche Beobachter ihr Alter an – eine derart junge Frau, schwang dabei mindestens im Subtext mit, könne doch niemals so gute Songs schreiben. Weil sie sich für einen Popstar eher zugeknöpft kleidete, wollten reaktionäre Kreise außerdem eine neue Tugendhaftigkeit an ihr festmachen. Auch um solchen Fehleinschätzungen zu entkommen, wollte Lorde diesmal weniger konzeptgetrieben an neuen Songs arbeiten: unmittelbar, körperlich, organisch sollte alles entstehen. Trotzdem ist überwiegend am Computer komponiert worden. Bass, E-Gitarre, Keyboards und Streicher kommen zwar auch vor in dieser Musik, aber oft verfremdet bis an die Grenze zur Unkenntlichkeit. In nur zwei Songs gibt es ein klassisches Schlagzeug, der Gesang an vielen Stellen wurde aufwendig nachbearbeitet.
Womit wir bei Jack Antonoff wären. Lange Zeit war dessen klavierlastiger, auf große Klarheit und Emotionen ausgerichteter Sound stilprägend im Pop, sicherlich wären Swift, Del Rey und auch Lorde ohne den Input des Produzenten nicht dort, wo sie heute stehen. Schon , Lordes letzter Zusammenarbeit mit Antonoff, merkte man jedoch Abnutzungserscheinungen an – als hätte der Produzent die Soundfiles auf seinen Festplatten nur noch willkürlich unter den betreuten Künstlerinnen verteilt und Lorde dabei die schwächeren Kompositionen erwischt.
ist natürlich kein Techno-Album, aber sehr viel stärker beeinflusst durch Clubmusik, als es unter Antonoff denkbar gewesen wäre. Der inhaltliche Schwerpunkt der verzerrten Selbstwahrnehmung und Erneuerung findet eine ästhetische Entsprechung im häufig übersteuerten Sound: Boxen und Kopfhörer ächzen und krachen unter dieser Musik, schon die erste Single droht regelrecht zu zerplatzen. Lorde singt darin von Spiegeln, die sie mit Tüchern bedeckt, und Mahlzeiten, die sie nicht einnehmen wird – es geht um die erwähnte Essstörung, aber auch um Erinnerungen an die Zeit mit ihrem Ex-Partner. Ein Videodreh für den Song endete kürzlich mit einem Massenauflauf, der von der Polizei aufgelöst wurde. Anschließend erreichte Platz eins der Spotify-Charts.
Die markanteste Zeile des Songs könnte auf die gescheiterte Beziehung ebenso verweisen wie auf Lordes Fans oder die Musikindustrie: Alles hat Lorde gegeben, in Zukunft aber, diese Botschaft klingt auf immer wieder durch, soll das nur noch zu ihren Bedingungen geschehen. Der A-capella-Song beschwört Lordes neuen Freiheitsdrang mit eindeutigen Zeilen, ein Robotereffekt aber, der sich über mehrere Versionen ihrer Stimme legt, scheint auch Zweifel zum Ausdruck zu bringen. funktioniert andersherum: Die musikalische Begleitung ist eindeutig und spielt Lordes Gespür für Dramaturgie und Dynamik aus, für den Text aber ist eine Frage zentral:
Nicht alles ist so gut auf , einige Songs bleiben generisch, andere sind lediglich rhythmische Spielereien. Der Eindruck einer Frau aber, die die Deutungshoheit über sich selbst und ihr Werk erlangt, wird die Rezeption des Albums zu Recht bestimmen. Wer darin bloße Selbstbespiegelung sieht, wird wohl auch nicht verstehen, dass ein Röntgenbild mit Spirale als Albumcover im Jahr 2025 auch zum politischen Statement wird.