Hinter der Wirklichkeit geht’s weiter

Als ich klein war, erzählte mir meine Mutter immer Geschichten. Es waren nicht irgendwelche Geschichten, sie ähnelten dem, was wir erlebt hatten. Da gab es die rothaarige Sarah, die eine Mischung war aus mir und einem Kind, das einmal zu Besuch bei uns gewesen war und mich fasziniert hatte. Sarah war in den Erzählungen meiner Mutter bockig, Sarah war stur, und Sarah war sehr lustig. Sie hatte in diesen Geschichten außerdem eine im Rollstuhl lebende Schwester, so wie ich auch, und gemeinsam passierten den beiden Mädchen Dinge, die an unser Leben angelehnt waren – nur übersteigerte meine Mutter beim Erzählen alles ins Fantastische, Absurde oder bilderbuchhaft Gemütliche. Menschen fingen plötzlich an zu singen oder schmissen Torten, Autos rasten mit quietschenden Reifen durch die Gegend, und Sarah warf sich bei Wutanfällen in riesige Pfützen, sodass sie von Schlamm bedeckt wieder hinauskam. Und wenn sie am Ende der Geschichte ins Bett ging, dann war dieses so weich und warm und Sarah so wohlig müde, wie es eben nur in der großen, weiten Welt der Fantasie sein kann.

Vor Sarah gab es Jan und Jenny. Diese zwei ähnelten meinen älteren beiden Geschwistern, zogen interessanterweise auch plötzlich nach Südafrika um und schüttelten immer wieder den Kopf über ihre kleineren Schwestern.

Dann wieder bekam ich Post von meinem Schutzengelchen. Urplötzlich lag auf meinem Bett ein so schön verzierter Brief, dass ich mir sicher war, er konnte nur direkt aus dem Himmel zu mir geflattert gekommen sein. Darin erzählte mir mein „Engelchen“ alles Mögliche aus meinem Alltag, was es beobachtet hatte.

Ich hatte das Glück, dass mein Erleben durch diese Geschichten aufgefangen und geordnet wurde. Während mein Vater der bewunderte und zunehmend verrückte Wissenschaftler war und unter Genialitätsverdacht stand, sorgte meine Mutter dafür, dass der Laden emotional am Laufen blieb, stellte sicher, dass die immer bedrohlicher werdende Umgebung – mein Vater wurde paranoid und verlor seine Professur an der Universität – für uns abgepuffert wurde. Ihre Geschichten waren ein sicherer Hafen, darin schien immer die Sonne, selbst wenn es regnete. Manchmal mussten meine Schwester und ich bei den Einfällen meiner Mutter so sehr lachen, dass sie nicht weitererzählen konnte.  

Neben dem Zuhause, das mir unsere Mutter durch ihr Erzählen gab, brachte sie mir nebenbei entscheidende Dinge bei: Es schien mir immer schon das Selbstverständlichste von der Welt, sich Geschichten auszudenken, das war etwas, das man natürlicherweise einfach machte. Nicht auch als Frau, sondern gerade als Frau. Und noch etwas lernte ich: dass es diese Geschichten sind, die dafür sorgen, dass unsere Emotionen nicht einfrieren und unsere innere Welt sich weiterdreht und damit auch unsere äußere. Für all das bin ich meiner Mutter bis heute dankbar.

Auch wenn das hoch gegriffen klingt und ich es nicht empirisch erforscht habe: In letzter Zeit kam mir öfter der Gedanke, dass die Erfahrung, die ich als Kind gemacht habe, sich übertragen lässt auf die Geschichte der Menschheit.     

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