Wirtschaftsverbände zeigen sich alarmiert von den Ergebnissen der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Nach den großen Stimmenzuwächsen für extreme Parteien wie AfD und BSW steigt die Sorge vor wirtschaftlichen Konsequenzen und Problemen bei der Fachkräftegewinnung in den betroffenen Regionen.
„Die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen sorgen für große Verunsicherung bei den dort ansässigen Unternehmen. Das ist das Gegenteil von Verlässlichkeit und Planbarkeit, das ist eine nie dagewesene politische Situation mit vielen Unwägbarkeiten“, sagt Stefan Genth, der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE), gegenüber WELT.
Für die gesamte Wirtschaft in beiden Bundesländern werde es angesichts der starken Ergebnisse für die AfD nun nicht einfacher werden, ihre offenen Stellen zu besetzen und Fachkräfte aus dem Ausland für sich zu gewinnen, fürchtet Genth. „Das ist ein schwieriges Wahlergebnis. Ich kann aus Sicht der Wirtschaft nur vor einem weiteren Erstarken der AfD warnen: Das ist keine Alternative, sondern eine Sackgasse. Ausgrenzung und Abschottung sind Schlagwörter für eine Politik, die menschenverachtend und nicht zukunftstauglich ist.“
Im Fokus steht dabei unter anderem Elektroindustrie und Digitalwirtschaft mit der geplanten Ansiedlung von Halbleiterfabriken in Ostdeutschland. „Deutschland muss ein Land bleiben, das für Weltoffenheit und Innovationsfreude steht“, sagt Ralf Wintergerst, der Präsident des Digitalverbandes Bitkom. Diese Werte würden aber weder AfD noch BSW vertreten.
„Die geplanten Halbleiterfabriken in Sachsen werden wir ohne Fachkräfte aus dem Ausland nicht betreiben können“, warnt Wintergerst. „Solche Spitzenkräfte können ihren Arbeitsort frei wählen.“ Für die Digitalwirtschaft seien die Wahlergebnisse aus Sachsen und Thüringen daher ein Warnsignal.
Auch den Verband der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI) treibt das Halbleiter-Thema um. „Gerade in Sachsen hat sich mit dem Silicon Saxony ein Halbleiter-Cluster von Weltbedeutung angesiedelt. Dieses Juwel darf nicht durch eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik oder verstörende nationalistische Rhetorik gefährdet werden“, fordert Wolfgang Weber, der Vorsitzende der Geschäftsführung des ZVEI, gegenüber WELT.
Die großen Zugewinne der AfD sieht er als „ein bitteres Warnsignal an die Politik“, Deutschland bei Wirtschaft und Infrastruktur voranzubringen. „Beide künftigen Landesregierungen müssen weiter für eine weltoffene Gesellschaft eintreten, die selbstverständlich auch Fachkräftezuwanderung vorsieht“, fordert der Branchenvertreter.
Schnitzer fürchtet stärkeren Fachkräftemangel
Zumal der Bedarf in den beiden Freistaaten besonders groß ist und weiter steigt. Laut der Top-Ökonomin und Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer haben Sachsen und Thüringen seit der Wiedervereinigung rund ein Fünftel ihrer Bevölkerung verloren. Und einige Landkreise dürften in den kommenden Jahren weitere 20 bis 30 Prozent der Erwerbsbevölkerung verlieren.
„Der jetzt schon bestehende Fachkräftemangel wird sich also noch weiter verschärfen“, beschreibt Ökonomin Schnitzer und formuliert in Richtung AfD: „Die Ablehnung von qualifizierter Zuwanderung ist an der Stelle das falsche Signal, denn sie wird Fachkräfte davon abhalten, diese Bundesländer als Option in Erwägung zu ziehen.“
Marcel Fratzscher wiederum befürchtet nicht nur mangelnde Zuwanderung. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hält es auch noch für „sehr wahrscheinlich“, dass die Wahlergebnisse darüber hinaus zu einer Abwanderung von Unternehmen und auch Fachkräften führen wird.
„Vor allem junge, gut qualifizierte und hoch motivierte Bürgerinnen und Bürger werden die beiden Bundesländer verlassen und dorthin gehen, wo sie mehr Offenheit und Wertschätzung erfahren“, prognostiziert der Ökonom. „Dies dürfte einen Anstieg der Insolvenzen und einen Exodus von Unternehmen zur Folge haben.“
Die Wirtschaftsverbände sehen nun die Bundespolitik gefordert und sparen nicht mit Kritik am bisherigen Kurs der Koalition aus SPD, FDP und Grünen. „Die Ergebnisse sind ein deutliches Warnzeichen an die Ampel-Politik im Bund“, sagt zum Beispiel Rainer Dulger, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).
„Besonders der Zulauf zu den politischen Rändern zeigt die starke Verunsicherung der Menschen und das fehlende Zutrauen, dass sich unser Land in die richtige Richtung entwickelt.“ Die Antwort auf Populismus und rückwärtsgewandte Konzepte müsse nun eine pragmatische Politik sein, die sich an den Problemen der Betriebe und ihrer Beschäftigten orientiert. „Die Ampel-Parteien sind jetzt umso mehr zum Handeln aufgefordert.“
Handwerk fordert Antworten von der Bundespolitik
Auch Handwerkspräsident Jörg Dittrich nennt die Landtagswahlergebnisse in Sachsen und Thüringen ein „deutliches Warnzeichen“ an die Bundespolitik und fordert schnelle und konkrete Antworten. „Diese Wahlergebnisse müssen auch in der Bundespolitik zu Konsequenzen führen“, sagt der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH).
Denn sie würden die Verunsicherung und den großen Vertrauensverlust in das bisherige Handeln der Ampel-Koalition zeigen. Unterstützung kommt auch von Bitkom-Chef Wintergerst, der in den Wahlergebnissen „mehr sein als nur ein Weckruf“ sieht.
„Sie müssen Aufforderung und Antrieb sein, Probleme zu lösen, und zwar von Grund auf. Wir benötigen sichtbare und spürbare Verbesserungen: in den Infrastrukturen, in den Unternehmen, den Schulen, den Verwaltungen, der inneren und äußeren Sicherheit. Viele Menschen wollen Veränderung.“
Bei der Stiftung Familienunternehmen und Politik wünscht man sich eine veränderte Wirtschaftspolitik und dabei vor allem mehr Aufmerksamkeit für die Regionen. „Wir haben bei den Landtagswahlen erlebt, dass der Zuspruch für populistische Parteien gerade im ländlichen Raum groß ist“, sagt Geschäftsführer David Deißner gegenüber WELT.
Die Ursachen seien vielfältig. „Aber klar ist, dass sich die Menschen Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft machen.“ Der Bund müsse daher die Rahmenbedingungen für die Firmen vor Ort verbessern. „Wir brauchen keine neuen Fördertöpfe, sondern wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen – also weniger Bürokratie, schnellere Genehmigungen, Anreize für Fachkräfte. Dann können Familienunternehmen ihre stabilisierende Kraft für Gesellschaft und Ökonomie noch stärker entfalten.“
Gleichzeitig treibt die Familienunternehmen der Rechtsruck bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen um. Im Vorfeld hatten einige Dutzend daher die Initiative „Made in Germany – Made by Vielfalt“ gestartet und vor den politischen Positionen der AfD gewarnt – woraufhin Thüringens AfD-Parteichef und -Spitzenkandidat Björn Höcke ihnen „schwere, schwere wirtschaftliche Turbulenzen“ gewünscht hat.
Zwar hätten sich die Initiatoren gewünscht, dass solch entlarvende Aussagen zu einem anderen Ergebnis geführt hätten. Man zeigt sich aber zufrieden, zumindest einen Debattenbeitrag geleistet zu haben. „Gemeinsam mit inzwischen rund 100 Familienunternehmen mit deutschen Wurzeln sind wir weiterhin der Überzeugung, dass Vielfalt und Toleranz ein wesentlicher Teil des Erfolgsmodells Deutschlands als Wirtschaftsstandort im internationalen Wettbewerb und des Gemeinwesens ist“, sagt Kampagnen-Initiator Timm Mittelsten Scheid, der zu den Eigentümern von Vorwerk gehört.
„Die Herkunft der Menschen in unseren Unternehmen ist vielfältig. Wir wissen, dass es gerade diese Vielfalt ist, die heute und in Zukunft über den wirtschaftlichen Erfolg deutscher Familienunternehmen entscheidet.“
Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie sowie über Recycling und Mittelstandsunternehmen.