Der britische Regisseur Steve McQueen lebt schon lange in
Amsterdam. Dass die niederländische Hauptstadt im Zweiten Weltkrieg von den
Nationalsozialisten besetzt wurde, weiß er natürlich. Dass in der Schule seiner
Tochter Gefangene von der SS gefoltert wurden, wusste er bis vor Kurzem jedoch
nicht. Als er es durch die Arbeit seiner Frau herausfand, wurde daraus der
Anlass für einen Dokumentarfilm über seine Wahlheimat.
Im Verlauf von zwei Jahren besuchte McQueen für 130 Adressen in Amsterdam, an denen zur Zeit der Nazibesatzung
Menschen gelebt haben, die terrorisiert und getötet wurden einen
Bruchteil jener 2.000, die seine Ehefrau, die Autorin Bianca Stigter, für ihr
Buch zusammengetragen
hatte. Er dokumentiert das Schicksal der Menschen, zeigt, was auf ihren Straßen
passiert ist, über die längst wieder Menschen flanieren, und was aus Gebäuden
wurde, die es heute nicht mehr gibt.
Daraus ist ein etwas mehr als vierstündiger Film geworden,
der beim Filmfestival in Cannes 2023 Premiere feierte und jetzt auf der
Streamingplattform Mubi zu sehen ist. folgt dabei
einer eigenwilligen Prämisse: Als Dokumentation über die Besatzung, die Shoah,
den Widerstand kommt der Film ohne historisches Bildmaterial, ohne Zeitzeugen,
ohne Wissenschaftler oder Expertinnen aus, die einordnen oder erläutern.
Stattdessen bewegt sich die Kamera, geführt von Lennert
Hillege, durch das heutige Amsterdam, von Wohnhäusern zu öffentlichen Gebäuden,
Museen, Restaurants, Parks, Schwimmbädern, Kirchen, Schulen oder den Grachten. Es
gibt Innenansichten aus Gebäuden, Tramfahrten, und manchmal bleibt der Blick an
einer Fassade haften. Die Erzählerin Miriam Hyams nennt eine Adresse,
erzählt, wer dort gelebt hat und was dort passiert ist. Zu einigen Häusern sagt
sie nach kurzer Pause: , „abgerissen“. Man
sieht dabei, wie die Zeit vergeht: Die Grachten frieren ein, Menschen fahren
Schlittschuh, dann fließt das Wasser wieder, Menschen tauchen und schwimmen.
Es gibt hier nichts pathetisch zu erzählen
Während Stigters Atlas alphabetisch geordnet war, gibt es in
keine ersichtliche Anordnung der Adressen. Die Erzählerin
Hyams führt im Zeitraffer durch Amsterdam, dessen Jahreszeiten und
Gefühlslagen, wie bei einer Stadtführung, die physisch gar nicht möglich wäre.
Daraus entsteht ein dokumentarisches Mosaik, das von Besatzern, Kollaborateuren
und Widerstand im Wechsel berichtet, und doch einen großen Bogen erkennbar
macht. Als eine Widerstandsgruppe einen Anschlag auf das Einwohnermeldeamt verübte,
das Juden registrierte, erwähnte Anne Frank dies als „eine kleine
gute Neuigkeit“ in ihrem Tagebuch, erzählt Hyams in .
Die Adresse Prinsengracht 263, das Haus in dem Frank und ihre Familie sich vor
den Nazis versteckten, beheimatet heute eines der berühmtesten Museen über die
Shoah. In McQueens Film wird sie ausgelassen.
Dass über vier Stunden dauert – inklusive
eines Intermezzos, in dem sich die Kamera nachts wie ein Geist durch die Stadt
windet – ist auch deshalb herausfordernd, weil der Film kaum einmal von
seiner Grundform abweicht. Im Sinne des Schriftstellers Elie Wiesel, der sich
dagegen aussprach, das ganze Grauen des Holocausts künstlerisch zu zeigen,
scheint McQueen damit sagen zu wollen: Es gibt hier nichts pathetisch zu
erzählen, es gibt keine sinnhafte Kausalität, manchmal kommuniziert man besser,
indem man nicht zeigt. So versetzt den Zuschauer in die
Position, seine eigene Rezeption infrage zu stellen. Es ist schier unmöglich,
jede angesteuerte Adresse in gleicher Weise aufzunehmen – mal beobachtet man
mehr das Geschehen, mal hört man nur auf den Text. So wird eine individuelle
Unvollständigkeit evoziert, die darauf verweist, wie unzulänglich unser Zugang
zu Geschichte sein kann: Was nehmen wir auf, was nicht? Woran erinnern wir uns,
was entgleitet? Was werden wir später wiedergeben können?