Es war ein unorthodoxer Vorschlag, um die explodierenden Fehlzeiten wegen der hohen Krankenstände wieder einzufangen, den Klaus Reinhardt ins Spiel brachte. So könne sich der Präsident der Bundesärztekammer vorstellen, dass Beschäftigte auch für einige Stunden am Tag krankgeschrieben werden können.
Die Reaktion auf diese Forderung nach „Teilzeit-Krankschreibungen“ folgte umgehend. Als „schlicht absurd“ wies der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) den Vorstoß zurück. Diese Reaktion war reflexhaft und sie war falsch. Und das aus gleich mehreren Gründen.
Kritiker haben wohl recht, wenn sie darauf hinweisen, dass Halbtageskrankschreibungen die immer neuen Rekorde bei Krankmeldungen kaum durchbrechen werden. Und doch ist Reinhardts Vorstoß zu begrüßen. Denn die Lage einer zunehmend kranken Arbeitnehmerschaft erfordert eine breite Diskussion, die neuartige Ansätze nicht fürchtet. Was es nicht braucht, ist eine Frontenbildung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Wie in so vielen Bereichen hat die Corona-Pandemie auch bei den Krankenständen für Verwerfungen gesorgt. Die Techniker Krankenkasse rechnet etwa vor, dass ihre 5,7 Millionen erwerbstätig Versicherten vor der Pandemie im Jahr 2019 durchschnittlich 11,4 Tage krankgeschrieben waren.
Im ersten Dreivierteljahr 2024 ist dieser Wert auf 14,13 Tage geklettert. Ein bewussterer Umgang mit Infektionen trägt dazu bei, dass die sogenannte Bettkantenentscheidung immer häufiger zugunsten des Zuhausebleibens ausfällt. Wer jahrelang darauf bedacht war, bloß keine anderen Menschen anzustecken, schüttelt das nicht über Mittag ab.
Doch das Problem ist kein rein medizinisches. Die Rekordkrankenstände deuten darauf hin, dass in vielen Arbeitsverhältnissen etwas prinzipiell aus den Fugen geraten ist. Grundfalsch wäre es, die Gründe dafür ausschließlich auf Arbeitnehmerseite zu suchen und zu unterstellen, dass Deutsche das Krankfeiern als massenhaftes Hobby für sich entdeckt hätten.
Die Ursachen liegen tiefer. Der gesamte Arbeitsmarkt befindet sich in einer tief greifenden Transformation. Homeoffice hat die Arbeitsroutine für die viele Büroarbeiter neu geordnet. Wie ein Damoklesschwert liegt die künstliche Intelligenz über ganzen Berufszweigen.
Diese Umwälzungen hinterlassen Spuren. Psychische Erkrankungen bilden einen immer größeren Anteil der Fehltage. Es stimmt, Halbtageskrankschreibungen werden dieses Problem kaum lösen. Reflexhafte Argumentation und die Verweigerung einer offenen Diskussion allerdings auch nicht.
Andreas Macho ist WELT-Wirtschaftsreporter in Berlin mit den Schwerpunkten Gesundheit und Bauwirtschaft.