Im vergangenen Jahr feierte die Türkische
Republik ihr einhundertjähriges Bestehen, jetzt unternimmt sie einen neuen
Vorstoß zur Lösung des größten Problems ihrer Geschichte. Im Oktober erfolgten gleich
mehrere Schritte, die darauf belegen, dass der Staat einen umfänglichen Plan
zur Beilegung des Kurdenkonflikts umsetzt.
Den ersten
Hinweis gab Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan Ende August. Anders als in seiner bis dahin üblichen polarisierenden Rhetorik sagte er: „Wir 85 Millionen sitzen im
selben Boot. Um die Schwierigkeiten zu überwinden, müssen wir die innere Front
stabil halten.“ Bei der Parlamentseröffnung am 1. Oktober ging dann
überraschenderweise Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP, auf
die kurdischen Abgeordneten der DEM-Partei (ehemals HDP) zu und schüttelte
ihnen die Hände. Früher hat er sie als Verräter bezeichnet und wollte sie vor
Gericht sehen. Es handelte sich hier nicht bloß um die Geste eines
Spitzenpolitikers, sondern um das Manöver eines staatlichen Entscheidungsträgers.
Es folgte denn auch ein weit radikalerer Vorstoß. Bahçeli sagte mit Bezug auf
Abdullah Öcalan, Chef der bewaffneten Organisation der Kurden PKK, der seit 25
Jahren in strenger Isolationshaft sitzt: „Er soll ins Parlament kommen und
erklären, dass der Terror beendet und die Organisation aufgelöst ist.“ Wer bis
dahin auch nur vorgeschlagen hatte, Öcalan aus der Haft in Hausarrest
zu überführen, war als Verräter abgestempelt und wegen „Terrorismuspropaganda“
mit Ermittlungsverfahren überzogen worden. Deshalb waren Bahçelis Worte so bedeutungsvoll. Erdoğan forderte, „die ausgestreckte Hand nicht persönlichen
Erwägungen zu opfern“.
Kurz darauf
stellte sich heraus, dass es sich um taktische Vorstöße einer strategischen
Vorarbeit handelte. Denn Meldungen von Verhandlungen zwischen dem türkischen
Geheimdienst und Öcalan, der auf der Gefängnisinsel Imralı im Marmarameer
einsitzt, waren durchgesickert. Öcalan war gestattet worden, mit
Guerilla-Kommandanten in den Bergen zu telefonieren. Der PKK-Chef sollte seine
Organisation mit Hauptquartier im Nordirak dazu bringen, die Waffen
niederzulegen und den seit vierzig Jahren andauernden Krieg zu beenden. Erdoğan
hatte seinem nationalistischen Koalitionspartner Bahçeli einen Hausbesuch
abgestattet, um ihm die Bedeutung dieser Initiative darzulegen. Nur er wäre in
der Lage, die Grauen Wölfe, die sich vehement gegen diesen radikalen Plan
stellen würden, dafür einzunehmen. Ohne sich selbst die Hände zu verbrennen,
ließ Erdoğan einen anderen die Kastanien aus dem Feuer holen. Der Chef der
sozialdemokratischen Oppositionspartei, Özgür Özel, erklärte: „Die Beendigung des
Terrors hat unsere volle Unterstützung.“ Ebenso ließ Selahattin Demirtaş, der
ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, den Özel zuvor in der Haft besucht hatte,
verlautbaren: Wenn Öcalan die Initiative aufgreife, stünde er hinter ihm.
Viereinhalb
Jahre lang war Öcalan total isoliert, nicht einmal seine Anwälte wurden
mehr vorgelassen. Jetzt durfte er mit seinem Bruder kommunizieren. Die Botschaft des
PKK-Chefs an ihn lautete: „Wenn die Voraussetzungen stimmen, bin ich imstande,
die Gefechtsphase auf die rechtliche und politische Ebene zu verlagern.“
Zeitgleich wurde dem Parlament ein Gesetz vorgelegt, demzufolge alle, die seit
25 Jahren inhaftiert sind, unter Auflagen freikommen sollen. Die Umsetzung des
Plans war de facto eingeleitet, nun sollte die gesetzliche Grundlage folgen.
Doch warum?
Warum dieser plötzliche Wandel der staatlichen Hardlinerpolitik, die bis dato
die Devise vertreten hatte, die einzige Reaktion auf Terror sei die
Eliminierung der Terroristen? Was ist geschehen, dass Erdoğan, der vor zehn
Jahren bereits einen ähnlichen Prozess eingeleitet hatte, die Verhandlungen
wieder aufnahm, nachdem er sie damals, als er merkte, dass sie ihn Stimmen
kosteten, abgebrochen hatte?
Hinter der
Initiative stecken sowohl innen- wie außenpolitische Motive. Nachdem Erdoğan
im letzten Jahr zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, darf er laut
Verfassung nicht noch einmal kandidieren. Dafür bräuchte es eine
Verfassungsänderung. Und für diese benötigt er die Zustimmung von 400 der 600
Parlamentsabgeordneten. Nun haben Erdoğan und seine Verbündeten gemeinsam aber
nur um die 330 Stimmen. Die DEM-Partei verfügt über 57 Abgeordnete. Eine andere
Möglichkeit wäre, mit den Stimmen von 360 Abgeordneten einen Volksentscheid
herbeizuführen, auch dazu müsste Erdoğan die Kurden auf seine Seite ziehen.