An der Front im ostukrainischen Gebiet Donezk hat das ukrainische Militär eine schwierige Lage eingeräumt. „Wir wissen alle, dass ich kein militärisches Geheimnis verrate, wenn ich sage, dass unsere Front eingebrochen ist“, sagte Generalmajor Dmytro Martschenko in einem Videointerview. Martschenko war zu Kriegsbeginn durch die unter seiner Führung erfolgreiche Verteidigung der südukrainischen Region Mykolajiw bekannt geworden.
Der russische Vormarsch habe mehrere Gründe, sagte Martschenko. „Erstens sind das fehlende Munition und Waffen, zweitens sind das fehlende Leute“, sagte der General. Es gebe „keine Leute, keinen Ersatz, die Soldaten sind müde, sie können die Frontlinie nicht abdecken, an der sie sich befinden“.
Russland setzt Vormarsch auf Pokrowsk fort
Zudem gab das russische Verteidigungsministerium bekannt, die Stadt Selydowe im Westen von Donezk erobert zu haben. Damit bestätigte es Angaben ukrainischer Militärbeobachter, die bereits Ende vergangener Woche die Einnahme der Stadt durch Russland verzeichnet hatten.
Selydowe gilt wie die ebenfalls bedrohte Stadt Kurachowe als wichtiges Zwischenziel der russischen Armee bei ihrer seit Monaten anhaltenden Offensive auf die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk, die etwa sieben Kilometer nordwestlich der Frontlinie liegt. Pokrowsk spielt eine bedeutende Rolle bei der ukrainischen Militärlogistik in Donezk.
Der Generalstab in Kiew meldete indessen 79 russische Angriffe in den Frontabschnitten südlich von Pokrowsk und bei Kurachowe – mehr als die Hälfte aller registrierten Angriffe innerhalb der vergangenen 24 Stunden entlang der gesamten Frontlinie. Den Verlust von Selydowe bestätigte die ukrainische Militärführung bisher nicht. In der Regel tut sie das erst mit mehreren Tagen Abstand.
200 Quadratkilometer eingenommen
Wie aus Angaben der dem ukrainischen Militär nahestehenden Beobachtergruppe DeepState hervorgeht, konnte Russland allein in den vergangenen sieben Tagen 200 Quadratkilometer Gebiet einnehmen – und damit etwa fünfmal so viel wie in einer durchschnittlichen Woche seit Jahresbeginn.
Nach dem weitgehenden Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive im vergangenen Herbst ist Russland nun fast 13 Monate seinerseits in der Offensive und eroberte in dieser Zeit mehr als 2.000 Quadratkilometer ukrainischen Gebiets. Mit mehr als 420 eroberten Quadratkilometern nahm Russland im Oktober so viel ein wie seit März 2022 nicht mehr.
Zwar konnten unabhängige Experten in dieser Zeit erhebliche Verluste an Militärtechnik auf russischer Seite bestätigen, die jene der Ukraine etwa um das Dreifache übersteigen und etwa einem Drittel der russischen Gesamtverluste seit Kriegsbeginn entsprechen. Letzteres gilt allerdings ebenso für die Ukraine. Aufgrund der geringeren Ressourcen bedeutet ein Verlustverhältnis von eins zu drei zuungunsten Russlands für die Ukraine bestenfalls weitgehenden Gleichstand.
Ukrainisches Militär benötigt mehr Soldaten
Das ukrainische Militär konnte nach eigenen Angaben in den vergangenen Monaten seinen Rückstand auf Russland bei der Versorgung mit Munition deutlich reduzieren: Dieser soll sich von einem Verhältnis von acht zu eins auf eines von zwei zu eins reduziert haben. Ähnliche Zahlen nannten auch westliche Staaten. Allerdings haben die Lieferzusagen der Unterstützerländer der Ukraine für schwere Waffen im Vergleich zu vergangenem Jahr erheblich nachgelassen.
Für Probleme sorgt zudem ein Mangel an Soldaten. Nach der Verabschiedung eines verschärften Mobilisierungssystems im Frühjahr konnte die Ukraine zwar Zehntausende Soldaten rekrutieren, allerdings kamen viele noch nicht an der Front an. Offiziere und Militärbeobachter beklagen zudem die kurze Ausbildungszeit sowie ein hohes Durchschnittsalter der Rekruten.
Männer, die jünger sind als 25, werden derzeit nicht eingezogen. Aufgrund der schwierigen demografischen Lage in der Ukraine, die zudem vor allem die jüngeren Jahrgänge betrifft, hat die Regierung in Kiew eine Senkung des Mobilisierungsalters abgelehnt – entgegen den Forderungen des Militärs.