Zur Eröffnung der Konferenz „Powering European Industry“ im süddänischen Sønderborg kommt Dänemarks König Frederik X.. Dort diskutieren Vertreter der europäischen Wirtschaft und Politik darüber, wie Europas Industrie in einer politisch und ökonomisch instabilen Zeit sicher und wettbewerbsfähig mit Energie versorgt werden kann – und wie sich Unternehmen, zum Beispiel mit ihrer Abwärme, effektiv in die öffentliche Energieversorgung integrieren lassen. Die Internationale Energieagentur (IEA) mit Sitz in Paris ist Mitveranstalter der Konferenz. Die Organisation gibt unter anderem jährlich die weltweit wichtigste Trendanalyse zu den globalen Energiemärkten heraus, den World Energy Outlook. IEA-Chef Fatih Birol, 66, sagte WELT, wie er den aktuellen Wandel der Energieversorgung im Kampf gegen den Klimawandel einschätzt, und welche Rolle Deutschland dabei spielt.
WELT: Herr Birol, die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre steigt gemäß dem jüngsten Klimabericht der Vereinten Nationen weiterhin deutlich an. Was schließen Sie daraus?
Fatih Birol: Die Zeit, die uns bleibt, um den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen – im Vergleich zur Mitte des 19. Jahrhunderts – schrumpft täglich. Auf der anderen Seite wächst die Nutzung erneuerbarer Energien weltweit deutlich schneller als es viele Menschen erwartet haben. Auch die Nutzung der Atomenergie wird in einer Reihe von Ländern ausgebaut. Insgesamt müssen diese fossilfreien Energien noch schneller ausgebaut werden.
WELT: Vor 30 Jahren war Deutschland als Industrieland eine Art Pionier beim Auf- und Ausbau der erneuerbaren Energien. Bis heute ist die „Energiewende“ und ihr Nutzen in Deutschland aber ökonomisch und politisch hochumstritten. Wie blicken Sie darauf?
Birol: Deutschland hat gute und substanzielle Schritte beim Ausbau der erneuerbaren Energien – vor allem von Wind- und Solarkraftwerken – gemacht, und ebenso bei der Energieeffizienz. Aber Deutschland hat auch drei historische Fehler bei der Energiewirtschaft und Energiepolitik begangen: Der erste Fehler war die enorme Abhängigkeit bei seiner Energieversorgung – speziell beim Erdgas – von Russland. Eine solche Abhängigkeit kann sich letztlich kein Land erlauben, weder ein kleines noch ein großes. Das habe ich schon 2004 dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder gesagt. Der zweite Fehler war der Atomausstieg: Deutsche Atomkraftwerke liefen so zuverlässig wie Schweizer Uhrwerke. Ich habe Respekt vor der deutschen Politik und Öffentlichkeit dafür, dass das Land diesen Weg gegangen ist. Aber meine persönliche Meinung dazu ist eine andere. Ich hätte eine solche Entscheidung nicht getroffen.
WELT: Und der dritte Fehler?
Birol: Das größte Wachstum bei der weltweiten Stromversorgung stammt heutzutage aus Solarenergie. Deutschland war vor 25 Jahren gemeinsam mit Italien und Spanien einer der weltweiten Vorreiter beim Aufbau einer Solarindustrie – um den Preis hoher Subventionen. Doch schon wenige Jahre später verloren die europäischen Staaten diese neue Industrie an China…
WELT: …das seinerseits mit hohen Subventionen eine Solarindustrie aufbaute und den Welt-Solarmarkt mithilfe von Dumpingpreisen seither immer stärker kontrolliert.
Birol: Deutschland und Europa hätten diesen Markt nicht so schnell aufgeben dürfen. Eine Goldmedaille im Marathon bekommen Sie, wenn Sie auf der Distanz von 42 Kilometern gewonnen haben. Niemanden interessiert, wer nach den ersten zehn Kilometern vorn lag.
WELT: Was hätten Deutschland und andere europäischen Länder gegen Chinas Billigoffensive am Solarmarkt tun können?
Birol: Sie hätten gegenhalten müssen mit immer höherer Produktivität und mit Innovationen bei der Herstellung von Solarmodulen. Deutschland ist ein industrieller Gigant, der die Mittel dazu hat. Heutzutage könnte Deutschland Weltmarktführer in der Solarbranche sein. Deutschland muss sehr sorgfältig über seine Energie-, Industrie- und Handelspolitik nachdenken.
WELT: Glauben Sie, dass es eine weltweite Renaissance der Atomkraft gibt?
Birol: Definitiv. Vor drei Jahren haben wir schon darauf hingewiesen, dass die Atomkraft international ein Comeback erleben könnte, und heute sehen wir, dass es so ist. Länder wie Frankreich, Großbritannien, Schweden oder Finnland, die bislang schon auf Atomkraft setzen, bauen oder planen ebenso neue Reaktoren wie Länder, die bislang die Atomkraft nicht nutzen, etwa Polen. Die Energiesicherheit spielt dabei in dieser Zeit eine herausragende Rolle.
WELT: Wie lassen sich Atomkraftwerke wirtschaftlich bauen und betreiben?
Birol: Zwei wesentliche Faktoren bestimmen die Diskussion in den jeweiligen Ländern darüber, ob neue – oder überhaupt – Atomreaktoren gebaut werden sollen: die öffentliche Zustimmung, und die Frage der Finanzierung. Die öffentliche Zustimmung zur Atomkraft nimmt derzeit in vielen Ländern zu. Bei der Frage der Finanzierung neuer Reaktoren müssen Politik und Wirtschaft neue und innovative Wege finden, gerade auch mit einer neuen Bewertung der Technologie für den Klimaschutz und die Energiesicherheit. Der operative Betrieb von Atomkraftwerken ist sehr günstig und zudem klimaneutral. Der Bau neuer Atomkraftwerke ist allerdings sehr teuer, er kostet Milliarden Dollar oder Euro, und er dauert lange. China ist besonders stark darin, Atomreaktoren im Kosten- und Zeitplan zu bauen. China hat in den vergangenen fünf Jahren 80 Prozent aller weltweit neu errichteten Atomkraftwerke gebaut.
WELT: Brauchen wir in der Europäischen Union eine stärker integrierte, gemeinsame Energiepolitik?
Birol: Unbedingt. Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft steht an einem Scheideweg. Es braucht eine neue europäische Energie- und Industriepolitik, unterstützt durch eine starke Handelspolitik. Europas Wirtschaft und Europas ökonomisches Gewicht stehen im Risiko. Was Europa gemeinsam leisten kann, haben wir zum Beispiel während der Pandemie gesehen oder auch in der gemeinsamen Reaktion nach dem Beginn des Ukrainekrieges.
WELT: Kommt der Aufbau eines weltweiten Marktes für regenerativ erzeugten, „grünen“ Wasserstoff schnell genug voran?
Birol: Ich würde sehr gern sagen, dass es so ist, doch das kann ich leider nicht. Wir sind weit von einem funktionierenden internationalen Markt für „grünen“ Wasserstoff entfernt. Es gibt bislang nicht genügend Nachfrage dafür, wohl auch deshalb nicht, weil die Kosten für „grünen“, regenerativ erzeugten Wasserstoff nach wie vor deutlich zu hoch sind. Es braucht deutlich mehr Verbesserungen für einen solchen Markt.
Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit mehr als 35 Jahren über die deutsche und die internationale Energiewirtschaft.