Sein Leben weiterleben

Mykolja Rachok liebte alles Schöne. Das sagen jene, die um ihn trauern.

Er trug gerne Hemden und Krawatten, sagt seine Mutter. Er brachte Rosen oder Kamillenblüten mit, wenn er sie besuchte.

Kolja war ein Aristokrat, sagt einer, der mit ihm an der Front kämpfte. Ein Intellektueller, fügt ein anderer hinzu. Er begann jeden Morgen mit einer Tasse Kaffee, auch unter starkem Beschuss, und er fluchte nie.

Kolja war die Ruhe in Person, sagt der Sanitäter, der seinen toten Körper barg. Er sagt: „Wir waren ausgebrannt, und er war wie ein Psychologe, den Gott uns schickte.“

„Kolja ist der Mensch, der mich am besten kennt“, sagt seine Schwester. „Nicht mein Ehemann, nicht meine Mama.“ Und es klingt kurz so, als wäre ihr jüngerer Bruder noch am Leben.

Zehntausende Männer hat die Ukraine verloren, seit sie sich gegen den Aggressor Russland wehren muss. Im dritten Kriegsjahr sind Tod und Trauer allgegenwärtig. Auf ukrainischen Friedhöfen liegen zwischen den Alten immer mehr junge Verstorbene, über deren Gräbern ukrainische Flaggen wehen. Es ist das Zeichen dafür, dass sie im Krieg gefallen sind.

Die Einzelnen geben ihr Leben, damit die Gesellschaft als Ganzes überleben kann. Zurück bleiben trauernde Eltern, Geschwister, Kinder, die ihren Schmerz oft nicht verarbeiten können, weil sie sogleich um andere Liebste bangen müssen: Stirbt ein Soldat, zieht ein nächster an die Front, mitunter aus derselben Familie. In diesem Krieg ist es üblich geworden, dass Angehörige für Gefallene nachrücken, freiwillig, aus Pflichtgefühl. Dies ist eine ihrer Geschichten.

Antonina Ljulka-Rachok, die Schwester des verstorbenen Mykolja Rachok, sitzt an einem Tag im März auf einem Sofa in ihrem Buchladen in der zentralukrainischen Stadt Winnyzja. Eineinhalb Jahre sind vergangen, seit ein Panzergeschoss eine tödliche Wunde in den Rücken ihres Bruders riss. Auf dem Fensterbrett neben der 34-Jährigen steht sein Porträt. Er lächelt darauf schüchtern, das Hemd sitzt eng am schmächtigen Körper. Auf dem Regal über Ljulka-Rachoks Kopf liegen seine zerlesenen Lieblingsbücher. Mykolja Rachok habe immer gehofft, irgendwann einen Buchladen zu eröffnen, sagt seine Schwester. Sie und die Eltern haben seinen Traum umgesetzt, nachdem der 27-Jährige starb. „Sein Leben verlängert sich hier im Buchladen“, sagt seine Mutter. Sie haben den Laden „Helden“ genannt.

Ljulka-Rachok wischt sich die Tränen aus den Augen und ermahnt sich: „Ich sollte nicht weinen.“ Manchmal stehe sie am Grab und müsse laut sagen: Ich habe doch gesehen, wie sie dich hier begraben haben. Sie hat den Tod ihres Bruders noch nicht verarbeitet, denn seit er gestorben ist, plagt sie eine neue Sorge. Ihr Ehemann Ruslan Ljulka ist freiwillig an die Front gezogen, um die Lücke aufzufüllen, die Mykolja Rachok hinterließ. Ljulka befindet sich an diesem Tag im März knapp 650 Kilometer vom Buchladen entfernt in einem Dorf im Osten. Seine Frau hat die Entscheidung mitgetragen, auch wenn sie um sein Leben fürchtet. „Das Wichtigste ist, dass er nicht im Schützengraben kämpft“, sagt sie. Kürzlich zog sie zurück in das Haus ihrer Eltern am Stadtrand, damit sich ihre Mutter um ihren dreijährigen Sohn Taras kümmern kann, wenn sie selbst im Buchladen arbeitet.

In der Ukraine stößt man immer wieder auf Geschichten von Menschen, die an die Front ziehen, sobald ein Soldat in ihrem engsten Kreis stirbt. Als schmerze der Verlust eines Angehörigen weniger, wenn man ihn im Kampf ersetzt. Da ist etwa die Presseoffizierin, die zwei Monate nach dem Tod ihres Bruders in dessen Brigade eingetreten ist, um seinen Platz einzunehmen. Sie erzählt erst Stunden nach dem Kennenlernen davon, als sei dieser Schritt eine Selbstverständlichkeit. Oder der Mann mit dem grauen Bart und den tiefen Falten aus einem viral gegangenen Video. Er weint, als die Reporterin des ukrainischen Kanals United24 Media fragt, wieso er beschlossen habe, zu kämpfen. „Mein Sohn ist gestorben, und deshalb bin ich gekommen“, sagt er mit brüchiger Stimme. „Es tut mir leid um meinen Sohn.“