Wie eine Detektivin im Wald

Schon von Weitem sehe ich ihn
glänzen, die Oktobersonne hat ihn verraten. Sie spiegelt sich in seiner
hellbraunen Kappe, ein knackiger Stil bohrt sich ins Laub. Ich spüre, wie die
Aufregung mir ein Grinsen ins Gesicht treibt, als ich ihm näher komme. Ich hatte
es schon fast aufgegeben. „Ein Steinpilz, der erste des Jahres!“, würde ich am
liebsten rufen, aber unterdrücke den Freudenschrei, um die Stille des Waldes
nicht zu stören. Schnecken oder Würmer haben seinen Hut angeknabbert, aber das
macht ihn nicht weniger hübsch. Im Gegenteil. Ich drehe den Pilz aus dem
feuchten Moos, er ist nicht zu alt und nicht zu jung, um ihn stehen zu lassen –
genau richtig. Er hat den perfekten Pilzgeruch. Holzig, nussig, etwas süßlich.
Für mich riechen Pilze nach Kindheit. Sie gehören zu meinem Herbst.

Es gibt Fotos von mir als Kind,
auf denen ich im polnischen Wald neben einem Flechtkorb voll mit Pilzen hocke,
der so groß ist wie ich selbst. Stolz lege ich da eine Verschnaufpause vom
Sammeln ein und halte einen Pilz fest, der kaum in meine Kinderhand passt. Seit
ich mich entsinnen kann, ging es mit meiner polnischen Verwandtschaft jedes
Jahr ab dem Spätsommer in die Pilze. Oder wenn man es wörtlich aus dem
Polnischen übersetzt: auf die Pilze. Schon mit vier Jahren wusste ich, wie ein
Pfifferling aussieht (gelblich-orange, nicht so knallig und rund wie sein
giftiger Verwandter) und dass der Steinpilz das Beste ist, was einem im Wald
begegnen kann. Manchmal tat meine Großmutter so, als hätte sie einen Pilz nicht
gesehen, nur damit ich mich umso mehr freute, wenn ich ihn fand. Ich
durchschaute ihr Spiel, und umso stärker war mein Ehrgeiz geweckt, einen eigenen
Steinpilz zu finden. Damals ging es mir nicht um die Pilzpfanne, die am Abend
so köstlich duften würde. Die glibberige Konsistenz von Pilzen fand ich ekelig,
außerdem bereiteten sie mir Bauchweh. Es ging um das Erlebnis im Wald, sich wie
eine Detektivin zu fühlen, die nach Hinweisen suchte, um der Lösung ihres Falls
ein Stück näher zu kommen. Riecht es hier nach Pilzen? Ist der Boden feucht
genug? Gibt es Giftpilze? Wenn es Giftpilze gibt, verbirgt sich hier auch etwas
Essbares. Wo versteckt sich das Essbare?

Inzwischen ist die Pilzsuche für
mich zu einer Gelegenheit geworden, Zeit mit der Familie und in der Natur zu
verbringen, ob in Polen oder in Deutschland. Oft lasse ich mein Handy zu Hause,
wenn ich losgehe, und genieße es, die Kuriositäten zu entdecken, die der Wald
zu bieten hat. Leuchtend orangene Korallen, die wie jene aus dem Meer aussehen,
aber zwischen Moos und Laub aufblitzen. Gelbliche Kugeln, die, wenn man aus Versehen
drauftritt, Staub verpulvern. Pilzkolonien, die sich um einen Baumstamm ranken,
als hätte sie jemand aus ästhetischen Gründen absichtlich platziert. Wenn man
zwischendrin essbare Pilze findet, umso aufregender. Mittlerweile freue ich
mich auch auf die Pilzpfanne am Abend.

Ich fand es erst mal befremdlich,
als mir immer häufiger Fotos und Videos von deutschen Pilzsammlern und ihren
Funden in den Instagram-Feed gespült wurden. Das ging vor ein paar Jahren los, während
der Pandemie. Da präsentierten plötzlich Influencer – oder „Pilzfluencer“ –
ihre Maronenröhrlinge in der Kamera, von denen ich bis dahin nur den polnischen
Namen kannte. Da erschienen Pilzpodcasts.
Und auch in meinem engeren Bekanntenkreis beobachtete ich, wie junge
Großstädter, ausgestattet mit Apps und Ratgebern, in den Wald zogen und ihre
Trophäen in Storys posteten. War Pilzesammeln zum Trend geworden? Ich fühlte
mich, wie man sich fühlt, wenn man einen Lieblingskünstler hat, der auf einmal
im Mainstream angekommen ist. Alle hören nun seine Musik, aber du hattest schon
viel früher entdeckt, wie gut sie ist. Und dann ist sie nichts Besonderes mehr.

In Osteuropa hat die Pilzsuche
jahrhundertealte Tradition und gilt in vielen Ländern als Volkssport. Die
Polinnen und Polen zelebrieren ihre Pilze sogar mit großen Festen.
Tourismusorganisationen und Gemeinden veranstalten Wettbewerbe im Pilzpfücken,
es gibt gemeinsame Kochaktionen. Das
größte Pilzfestival, das Święto Grzybów, findet jedes Jahr Anfang September in Węgliniec (Kohlfurt) statt
.
Im kommunistischen Polen wurde betriebliches Pilzesammeln organisiert, die Führungskräfte jagten Tiere, die Arbeiter Pilze.

Die Tradition hat zum einen
wirtschaftliche Gründe: Experten vermuten, dass sie mit der früher niedrigen Einkommenssituation in
vielen osteuropäischen Ländern zusammenhängt
. Tschechien etwa ist ein gebirgiges Land, wo aus topografischen
Gründen die Erträge aus der Landwirtschaft vielerorts karg waren
. So
waren Pilze über Monate für viele Menschen die wesentliche Nahrungsquelle. In
Polen werden Pilze auch als „Fleisch des Waldes“ bezeichnet. Ein kostenloses,
nahrhaftes Produkt, das man vielfältig verarbeiten kann. In der osteuropäischen
Küche gibt es unzählige Gerichte, in deren Rezepten Pilze in jeglicher Form auftauchen.
Besonders an Weihnachten kommen getrocknete Pilze aus den Funden im Herbst auf
den Tisch: als Teigtaschen (Pierogi) oder knusprig gerollte Pfannkuchen (Krokiety)
mit einer Sauerkraut-Pilz-Füllung, als Pilzsuppe oder als Kohlrouladen mit
Kartoffeln und Pilzen. Parasolpilze wälzen wir meistens in einer Panade und
braten sie an wie ein Schnitzel.

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