Auf dem Telegram-Kanal von Pawel Durow ist es still geworden. Zuletzt verschickte der Gründer und Chef der Nachrichtenplattform am 14. August eine Botschaft an seine mehr als 11,5 Millionen Follower. Es geht darin um den elften Geburtstag des umstrittenen Nachrichtendienstes.
„Als ich 1995 elf Jahre alt wurde, habe ich mir selbst das Versprechen gegeben, jeden Tag schlauer, stärker und freier zu werden“, schrieb Durow. Zumindest der Teil mit der Freiheit hat in dieser Woche nicht geklappt. Zwar ist Durow nach rund vier Tagen Untersuchungshaft gegen eine Kaution von fünf Millionen Euro wieder auf freiem Fuß, er darf Frankreich aber nicht verlassen und muss sich jede Woche zweimal bei der Polizei melden.
Die französischen Behörden haben ein offizielles Ermittlungsverfahren gegen den Mann mit den vielen Pässen eingeleitet. Dem gebürtigen Russen, der auch über die Staatsbürgerschaften von Frankreich, den Vereinigten Arabischen Emiraten und des kleinen Karibik-Staates St. Kitts und Nevis verfügt, wird unter anderem Beihilfe zur Verbreitung von Kinderpornografie und zum Drogenhandel vorgeworfen. Er soll nicht genug getan haben, um solche Straftaten auf Telegram zu unterbinden.
Seit Jahren gilt der Nachrichtendienst als vergleichsweise sichere Kommunikationsplattform für Terroristen, Kriminelle und Verschwörungstheoretiker aller Art. Auch im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurde Telegram zu einem wichtigen Kommunikations- und Propaganda-Kanal beider Seiten.
Der Kreml scheint sich große Sorgen um Durow und seine Internetplattform zu machen. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow warnte Frankreich am Donnerstag vor einer „politischen Verfolgung“ Durows. Dabei hatte der Gründer Russland einst verlassen, weil die russische Polizei mit einem Sondereinsatzkommando vor seiner Tür gestanden hatte. „Wir werden uns ansehen, was als Nächstes passiert“, warnte der Kreml-Sprecher.
Die französische Justiz scheint all das bislang nicht zu beeindrucken, in Paris hat man sich entschlossen, durchzugreifen. In Deutschland blieb es bislang hingegen bei markigen Worten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) drohte Telegram im Januar 2022 sogar mit der Abschaltung, wenn sich die Betreiber nicht an geltendes deutsches Recht halten.
Schon wenige Tage später ruderte sie damals zurück, es sei nicht ihr Ziel, Telegram abzuschalten, sie habe lediglich den Druck erhöhen wollen. Seither ist wenig passiert, um den Dienst zu zwingen, sich an die Gesetze zu halten.
Ein Offenbarungseid des Rechtsstaats?
Zwar verhängte das Bundesamt für Justiz (BfJ) im Oktober 2022 gleich zwei Bußgelder, doch die Knöllchen sind bis heute nicht rechtskräftig. Insgesamt 5,125 Millionen Euro fordert die Behörde, weil Telegram seinen Nutzern keine Möglichkeit bot, um strafbare Inhalte zu melden.
Doch die Versuche der Sanktionierung wirken inzwischen wie ein Offenbarungseid des Rechtsstaats: Erst konnten die Bußgeldbescheide im arabischen Dubai nicht wirksam zugestellt werden, dann legte doch noch eine Anwaltskanzlei im Namen von Telegram Widerspruch ein, inzwischen ist das Verfahren beim Amtsgericht Bonn anhängig, doch das wartet noch immer auf eine weitere Stellungnahme des Bundesamts, ob sich an der Rechtslage inzwischen durch den Digital Services Act (DSA) der EU etwas geändert hat.
Ein Termin zur Verhandlung über das Knöllchen? Derzeit nicht absehbar. „Die Stellungnahme des BfJ wird im Rahmen der vom Amtsgericht Bonn festgesetzten Frist im September 2024 erfolgen“, teilt eine Sprecherin der Behörde mit. „Der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist für das BfJ nicht einschätzbar.“ Die Dauer des Verfahrens insgesamt wolle man lieber nicht beurteilen, heißt es auf Nachfrage.
Es ist kein Zufall, dass man sich bei Telegram bei Anfragen von Behörden bislang oft taub gestellt hat. Das Unternehmen wirbt auf seiner Website sogar damit, dass man angeblich nicht kooperiere. „Bis zum heutigen Tag haben wir null Bytes unserer Nutzerdaten an Dritte weitergegeben, einschließlich Regierungen“, heißt es dort.
Doch zumindest einige Ermittlungsbehörden wie das Bundeskriminalamt (BKA) haben gar keinen Grund zur Klage – weil Telegram eben doch kooperiert. „Das BKA hat seit Oktober 2023 mehr als 400 Entfernungsanordnungen an Telegram übermittelt“, teilt die Behörde WELT mit. „Die Anordnungen wurden von Telegram durchgängig zeitnah umgesetzt.“
Insbesondere terroristische Inhalte auf seiner Plattform löscht Telegram laut BKA extrem schnell – innerhalb der vorgesehenen Frist von einer Stunde. Es könne „mitgeteilt werden, dass Telegram auf behördliche Entfernungsanordnungen gemäß TCO-VO reagiert“, heißt es in schönstem Beamtendeutsch. „TCO-VO“ ist die Abkürzung für die Verordnung zur Bekämpfung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte.
Viele Fragen bleiben offen
Ob das Bundeskriminalamt über die Terror-Abwehr hinaus auch die gewöhnliche Drogenkriminalität auf Telegram verfolgt, will die Behörde nicht beantworten. Ob die Zahl der Straftaten auf der Plattform zunimmt, könne man ebenfalls nicht sagen, da „keine Auswertung“ dazu vorliege.
Auch ob „Löschanregungen“ des BKA erfolgreich sind, mit denen die Behörde Telegram darauf hinweist, dass gegen die Nutzungsbedingungen der Plattform verstoßen wird, beantwortet die Behörde nicht. Anfang 2022 hatte das Amt auf Initiative von Innenministerin Faeser eine „Taskforce Telegram“ eingerichtet. Doch die hatte schnell wieder aufgegeben: „Die operative Arbeit der Taskforce Telegram wurde zum 31.05.2022 eingestellt“, erklärt das Amt.
Die Bundesnetzagentur (BNetzA) hat deutlich größere Probleme mit dem Verhalten der Telegram-Betreiber. Die Bonner Behörde ist seit Anfang des Jahres laut neuer EU-Gesetzgebung zum deutschen Aufseher über große Onlinedienste, zum sogenannten Digital Services Coordinator (DSC) bestellt worden.
Telegram sei bei der Umsetzung der Verordnung „aufgefallen“, befolge die Vorgaben nicht: „Hierbei ist insbesondere fehlende Content Moderation problematisch“, so die Aufseher. Die EU-Gesetzgeber wollen die Betreiber der Online-Plattformen dazu bringen, kriminelle Inhalte eigenständig und automatisch zu finden und zu löschen.
Bei Verstößen könnte die BNetzA nur wenig unternehmen, denn Telegram hat gegenüber den EU-Behörden einen Ansprechpartner in Belgien benannt, der für ganz Europa zuständig ist. Beschwerden sind nur an den belgischen Kontakt möglich. Doch den gebe es bislang noch gar nicht, schreibt die Bonner Behörde auf Nachfrage. Und: „Bei dem deutschen DSC sind bislang keine Beschwerden zu Telegram eingegangen.“
Benedikt Fuest ist Wirtschaftskorrespondent für Innovation, Netzwelt, IT. Seine Texte lesen Sie hier.
Philipp Vetter ist Wirtschaftskorrespondent in Berlin. Er berichtet über das Bundeswirtschaftsministerium, Wirtschaftspolitik und Verkehrspolitik. Er ist seit 2021 Co-Host des WELT-Podcasts „Alles auf Aktien“.