3. Oktober, Tag der Deutschen Einheit. Es ist das große Glück der jüngeren deutschen Geschichte: Wir sind wieder ein Land. Ein Geschenk, das vielen so selbstverständlich geworden schien. Doch in diesem Jahr wird klarer denn je: Wir müssen einander (wieder neu) verstehen lernen. Sonst verspielen wir womöglich, was wir gewonnen haben. Und Freiheit und Demokratie gleich mit.

Wer verstehen möchte, muss sich nähern. Was haben „die Anderen“ erlebt? Wie ticken sie? Was treibt sie an? Bei BILD zum Beispiel arbeiten so unterschiedliche Menschen zusammen, wie in unserem Land leben, die Chefredaktion ist ein bunter Ost-West-Mix. Wir haben gelernt: Es hilft, einander zuzuhören.

Ich bin in Leipzig geboren. Meine Eltern kommen aus Magdeborn, einem Dorf südlich von Leipzig an der alten F95, heute längst ein Teil der neuen A72. Die Gemeinde fiel der Braunkohle zum Opfer, und viele Einwohner zogen nach Leipzig-Grünau in ein Neubaugebiet. Meine Eltern kauften für 80 Ost-Pfennig den Quadratmeter ein kleines Grundstück, bauten sich dort drei Jahre lang ein Eigenheim Stein auf Stein selbst. Sie wohnen auch heute noch dort.

Als ich eingeschult wurde, hatten alle Kinder Pionierblusen. Da war das kleine Jungpionier-Emblem auf dem Oberarm, das alle so stolz trugen – aber meine Mutter sagte: „Nee, so ein’ Scheiß kaufe ich dir nicht. So schick ich dich nicht in die Schule.“

Ich wurde früh erzogen, immer meine Meinung zu sagen. Und auch deshalb durfte ich nur Abitur machen, weil die Mauer fiel. Vorher war mir das verboten. In meinem Zeugnis stand immer: Robert sei zu „aufmüpfig“ und ordne sich nicht dem Kollektiv unter.

In der 8. Klasse zum Beispiel kamen zwei Soldaten von der Nationalen Volksarmee in die Schulklassen und holten zwei Freunde und mich aus dem Unterricht. „Ihr dürft Abitur machen, wenn ihr für drei Jahre Armee unterschreibt“, sagten sie.

„Spinnt ihr?“

Und ich hab gesagt: „Das mache ich auf gar keinen Fall, ohne dass meine Mutter das weiß.“ Also habe ich sie angerufen. Sie hat im Nachbardorf im Kindergarten gearbeitet, 45463 war die Nummer, weiß ich heute noch. Mama kam sofort rübergeradelt und sagte: „Spinnt ihr?“ Sie verbat sich, ihrem Sohn eine solch vergiftete Offerte zu machen.

Es ging um eine Laufbahn bei der Armee. Eine Unteroffizierslaufbahn, die später ein Studium ermöglichen sollte. Weil meine Eltern nicht in der Partei (SED) waren, hat das System offenbar so versucht, wenigstens mich einzufangen.

Wir sagten nein. Und sie daraufhin: „Okay, du wirst sehen, was du davon hast. Abitur kannst du dir abschminken, Studium auch.“

Ich freundete mich damit an, Maurer zu werden. Dann fiel Gott sei Dank die Mauer.

Ein Ende der Gewissheiten

Der Mauerfall war für viele Menschen im Osten Deutschlands ein Ende der Gewissheiten. Was 40 Jahre lang galt, war über Nacht weg. Was gestern galt, galt heute nicht mehr – vor allem, dass der Westen das Böse sei.

Mit diesem Bruch sind die Ostdeutschen vielen anderen Gesellschaften eine Transformation voraus. Wir Ossis wissen, was es heißt, sich umzustellen, neu zu orientieren, neu zu lernen.

Wie geht es weiter? Gibt es meinen Job nächste Woche noch? Was ist mein Trabi, den ich kurz vor dem Mauerfall gekauft habe, noch wert? Was passiert mit meiner Wohnung, wenn das Haus plötzlich einem Westdeutschen gehört?

Jeder musste sich umstellen und keiner wusste, was kommt. Das war blanke Anarchie in den Ruinen und Überbleibseln der sozialistischen Planwirtschaft.

Wohlstand macht selbstbewusst

Wenn ich heute durch den Osten fahre (meine Lieblingsautobahn ist die A4 zwischen dem Hermsdorfer Kreuz und Eisenach), sehe ich die damals versprochenen blühenden Landschaften. In vielen ostdeutschen Regionen ist die Lebensqualität und Infrastruktur heute besser als in einigen westdeutschen, so wie etwa im Ruhrgebiet, wo ich auch drei Jahre gelebt habe.

Wohlstand macht den Rücken gerade, macht selbstbewusst. Und ja, wir Ostdeutschen können stolz sein auf uns, auf unsere Transformation. Und auf Grundsätzlichkeiten, die wir in die einheitsdeutsche Welt gerettet haben.

Zum Beispiel die Rolle der Frauen, ihr Selbstverständnis, ihre Selbstbestimmtheit. Im Osten waren die Frauen schon lange emanzipiert. Sie sind frühmorgens arbeiten gegangen. Sie hatten Kind und Karriere. Sie hatten dabei keine Unterstützung von ihren Männern. Sie haben sich scheiden lassen, wenn sie von ihrem Partner die Nase voll hatten. (Mein Kino-Tipp: „Die Unbeugsamen 2 – Guten Morgen, Ihr Schönen!“ von Torsten Körner).

Wer wollen wir sein?

Wenn wir heute dem Tag der Deutschen Einheit gedenken, sollten wir Deutschen vor allem an uns denken: Was wären wir ohne Mauerfall? Kennen wir uns eigentlich gut? Kennen wir unsere Geschichte und unsere Geschichten? Wer wollen wir sein?

Kommunikation ist: Wer hört wem zu? Sender und Empfänger auf Augenhöhe im Wechselspiel. Fangen wir also an, zu reden. Fangen wir an, uns noch besser kennenzulernen.