Sahra und ihre Randfiguren

Die neue ZDF-Dokumentation hat eine erwartbare Hauptdarstellerin – aber die eigentliche Spannung geht von den Randfiguren aus. Von links und rechts treten Wählerinnen und Wähler ins Bild. Einige werden befragt, darunter auch zwei Großspender aus Mecklenburg-Vorpommern, andere nur beobachtet, wie sie mit Sahra Wagenknecht sprechen: sei es bei einer Lesung aus Wagenknechts Buch oder bei einer BSW-Versammlung. Die fünfteilige Dokuserie der Journalistinnen Christiane Hübscher und Andrea Maurer (jede Folge circa 30 Minuten) ist seit heute in der ZDF-Mediathek zu sehen. 

Ließe sich eine Schnittmenge zwischen diesen BSW-Wählern und den treuesten Abonnenten der örtlichen Theater und Konzerthäuser bilden, sie wäre sicher groß. In der Dokumentation sind Menschen zu sehen, denen zuzutrauen ist, dass sie wissen, wann der erste reformatorische Gottesdienst stattgefunden hat (1522 in Gotha), wann der radikale Bauernaufstand mit dem Ziel, das „Himmelreich auf Erden“ sofort einzuführen, losbrach (1525) und wann die protestantischen Fürsten einen Verteidigungsbund gegen die Katholiken und ihren Kaiser Karl V. geschlossen haben: im Jahr 1531, es war der Schmalkaldische Bund. Kurzum, es spricht eine bürgerliche Schicht, die zweifellos über viele Jahre CDU, SPD und Grüne gewählt hat, aus der aber bei den jüngsten Landtagswahlen viele ihr Kreuz dort nicht mehr gemacht haben. 

Vor allem das bürgerliche Milieu angesprochen

Dieses Bild vermitteln auch die beiden Großspender Lotte Salingré und Thomas Stanger aus Boltenhagen an der mecklenburgischen Küste. Sie haben dem BSW direkt nach der Parteigründung fünf Millionen Euro gespendet. Als sie damit nicht an die Öffentlichkeit gingen, kam rasch der Verdacht auf, das Geld stamme aus Russland. Tut es aber nicht, Thomas Stanger hat es durch seine Arbeit als Unternehmer für Beleuchtungstechnik erworben. In der Dokumentation erzählt das Ehepaar (in Folge zwei), wie es über die Friedensbewegung und die Grünen zum BSW kam, weil keine andere Partei außer der AfD so klar für einen Verhandlungsfrieden mit Wladimir Putin sei – und die AfD für sie nicht infrage käme. Sie seien doch links. 

Als das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) Anfang des Jahres gegründet wurde, war die Hoffnung groß, es werde der AfD einen erheblichen Teil ihrer Wählerinnen und Wähler abspenstig machen. Das besagten auch damalige Umfragen. Doch die Wählerwanderungen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen liefern nun ein anderes Bild, eines, das eher zur Dokumentation im ZDF passt: Das BSW hat vor allem Menschen im bürgerlichen Milieu angesprochen – und in Ostdeutschland gehören dazu nicht nur CDU und SPD, sondern eben auch die Linke. In Brandenburg hat das BSW rund 44.000 frühere Linkewählerinnen und -wähler für sich gewonnen – und noch einmal 30.000 von SPD und CDU. Die AfD hat hingegen nur 14.000 Stimmen an die Wagenknecht-Partei verloren. In Sachsen und Thüringen bietet sich ein ähnliches Bild.

Was diese Dokumentation nicht leistet

Diese BSW-Wähler tragen in der ZDF-Dokumentation gesittet und ernst ihren Wunsch nach Frieden, sozialer Sicherheit und Wärme vor. Es ist nichts radikal und populistisch an ihren Äußerungen, nichts progressiv, vielmehr klingt immer etwas Beharrendes durch. Hier lässt sich ein politischer Raum erahnen, für den Spitzenpolitiker von SPD und CDU so schwer eine passende Sprache finden. Natürlich wabert politische Nostalgie durch diesen Raum, eine unerfüllbare Sehnsucht nach einer geordneten Welt – und gerade die bedient Sahra Wagenknecht erfolgreich.  

Womit wir bei dem angekommen sind, was diese Dokumentation nicht leistet: Sie erzählt nahezu nichts Neues über Wagenknecht selbst. Die Politikerin ist ganz bei sich und so wie Zuschauerinnen und Zuschauer sie aus Talkshows und früheren Dokumentationen kennen: charismatisch, wohltemperiert und zielstrebig, fernsehtauglich oberflächlich und mit einfachen Antworten auf eine vielschichtige und widersprüchliche Welt. 

Wagenknecht albert rum

Nachdenklich wird Wagenknecht vor der Kamera immerhin, wenn es um die Gründung des BSW geht, da spricht sie offen über das Risiko und die Möglichkeit eines Scheiterns. Aber, das ist ja vorläufig nur Theorie, das BSW eilt von Erfolg zu Erfolg, und ebendies schenkt der Dokumentation dann doch einen besonderen Wagenknecht-Moment: Sie albert vor Freude über die ersten Hochrechnungen bei den Landtagswahlen Anfang September in Sachsen und Thüringen herum. Ja wirklich, Wagenknecht verliert kurz die Kontrolle und lässt überschäumende Freude erkennen, natürlich feinperlig.   

Spoiler: Der kleine Kontrollverlust ist gleich in den ersten Minuten der ersten Folge zu sehen. Danach springen die ZDF-Journalistinnen mit ihrer Erzählung zurück zum Anfang des Jahres und begleiten den Aufbau des BSW, interviewen die neben Wagenknecht wichtigen Politikerinnen und Politiker der Partei. Das ist insofern erhellend, als über die Personen erkennbar wird, wie groß die Aufgabe ist, eine organisationsfähige Partei mit regierungstauglichen Landesverbänden aufzubauen – und wie Wagenknecht dabei vorgeht.  

Männer in Nebenrollen

Sie vergibt die Spitzenpositionen bisher mit Vorliebe an Frauen und stellt ihnen (und sich selbst) erstaunlich viele Unternehmer und politische Seiteneinsteiger dazu: Da ist der stellvertretende Vorsitzende der Bundespartei Shervin Haghsheno (Bauunternehmer und Projektentwickler) und die Co-Landeschefs Jörg Scheibe in Sachsen (Ingenieur, Unternehmer und Lehrer an einer Bauakademie) sowie Steffen Schütz in Thüringen (Inhaber einer Werbeagentur). Hinzu kommt BSW-Schatzmeister Ralph Suikat (IT-Dienstleister für Rechtsanwälte und Steuerberater). Die Parteichefin sagt, Suikat gewonnen zu haben, habe sie in ihrer Entscheidung bestärkt, das BSW tatsächlich zu gründen. Wagenknechts Ehemann Oskar Lafontaine und der frühere Gewerkschafter Klaus Ernst sind ebenfalls wichtige Helfer, aber auch sie arbeiten der Chefin zu. Das alles zeigt die Dokumentation eindrücklich. 

Wie sagt Gregor Gysi (Die Linke) über seine frühere Parteifreundin so schön: Sie könne nicht organisieren. Sahra Wagenknecht weiß offenbar um diese Schwäche und überlässt es nun anderen, an der Spitze aber wieder eine Frau. Sie hat die frühere Fraktionschefin der Linken im Bundestag, Amira Mohamed Ali, zu ihrer Co-Parteichefin gemacht. Unter Mohamed Ali sollen dann die Unternehmer für geordnete Abläufe und Finanzen sorgen. 

Ob sich diese Wirtschaftsnähe in der zweiten Führungsebene auf die kommenden Sondierungsgespräche auswirkt – oder ob die Parteilinie zwischen den früheren Linkenpolitikerinnen ausgehandelt wird, lässt die ZDF-Dokumentation nur erahnen. Es war, zugegeben, nicht der Fokus. Aber es ist eine der spannenden Fragen für die kommenden Wochen. 

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