Wissen
Sie noch? Wir lernen ein Gedicht. Heute sind die Strophen drei bis vier von dran.
Keine Sorge: Wir hören die ersten beiden noch nicht ab. Erst nach der letzten
Folge sollten Sie alle kennen. Und dann erst bitten wir Sie, uns ein Video von
sich zu schicken, wie Sie es aufsagen.
Wir
sind ehrlich gesagt sehr glücklich darüber, wie viele von Ihnen sich
über das Gedicht gefreut haben und mitmachen wollen. In der Redaktion lernen wir auch schon fleißig, unsere Kinder zu Hause sind ein bisschen
genervt, weil wir es ständig vor uns hin sprechen. Aber da müssen sie jetzt
durch.
Hier finden Sie die erste
Folge, falls Sie sie verpasst haben. Und hier kommen die Strophen drei und vier, die
wir diesmal lernen wollen, im Video mit der Schauspielerin Nina Kunzendorf.
Vergangenes
Wochenende haben wir den Beginn des Gedichts von Mascha Kaléko erkundet, in dem
es still wird in der Vorweihnachtszeit. Diese Woche geht es um die Spannung,
die der Bescherung vorausgeht, die Heimlichtuerei. Dieses warme Kribbeln, das
nur Weihnachten auslöst.
Mit
sieben Jahren ist man wahrscheinlich im perfekten Alter für Weihnachten. Der
erste selbstgekrakelte Wunschzettel, es gibt noch echte Geschenke, die man
knuddeln und bespielen kann, keine Gutscheine oder Geldscheine. Man glaubt
nicht mehr so richtig an den Weihnachtsmann (aber vielleicht doch noch ein
bisschen?), im besten Fall hat man ein Geschwisterkind, einen Komplizen in all
der magischen, aufregenden Vorfreude.
Wir
haben schon von Mascha und ihrer kleinen Schwester Lea gehört, die beide noch
in Galizien auf die Welt gekommen waren. Sie hatten es nicht leicht
miteinander. Denn Lea war
das erklärte Lieblingskind der Mutter. Der Vater war meist abwesend. Mascha
Kaléko hat später auf ihre eigene, spielerische Art, ihr Leiden unter der
Zurücksetzung beschrieben: „Ich war kein einwandfreies Mutterglück.“
Nur
auf den ersten Blick ist das selbstironisch witzig. Auf den zweiten ist es
bitter. Welches Kind möchte nicht in frühen Jahren ein „Mutterglück“ sein? Die Zeile ist in Wahrheit Selbstschutz und Trauer. Mascha wurde nicht geliebt. Lea,
hier im Gedicht Puttel genannt, war das einwandfreie, erwünschte
Mutterglück.
Wir alle haben wohl dieses eine Weihnachtsgeschenk, an das wir uns ewig erinnern.
Der kindliche Herzenswunsch, der in Erfüllung gegangen ist. Das Spielzeug oder
Kuscheltier, das wir nach dem Auspacken in die Arme geschlossen haben. „Mein
war Pu!“ – voll Besitzerstolz, Überraschung, Glück.
Gibt
es auch einen „Pu“, eine „Tilda“ in Ihrem Leben? An welchem Schaufenster haben
Sie sich die Nase platt gedrückt? Wie war das bei Ihnen unterm Weihnachtsbaum,
mit sieben Jahren? Roch es nach Marzipan? Löst die vierte Strophe in Ihnen
vielleicht eine Erinnerung aus, die Sie längst vergessen hatten?
Lea
hat viele Jahre später ein dramatisches Leben gelebt. Sie heiratete einen
Kommunisten und ging 1933 mit ihm in die Sowjetunion ins Exil. Dort verlor sich
ihre Spur, niemand aus der Familie hörte noch von ihr. Die Mutter, die zusammen
mit dem Vater und den zwei jüngsten Geschwistern nach Palästina ausgewandert
war, fiel infolge des Verlustes der Lieblingstochter in schwere Depressionen.
Als Mascha Kaléko, die mit ihrem Mann und Sohn 1938 ins amerikanische Exil
geflohen war, 1956 erstmals nach Deutschland zurückkehrte, klingelte in ihrer
Pension das Telefon, eine Freundin ihrer Schwester Lea war dran. Sie habe
überlebt, sei in Berlin, wolle Mascha treffen. 23 Jahre nachdem sie
sich zum letzten Mal gesehen, zum letzten Mal voneinander gehört hatten.
„Auf
meinen Tränen bin ich zu ihr geschwommen“, schreibt Mascha Kaléko über das
Wiedersehen. Sie tranken eine
Flasche Wodka und spazierten durch ihre gemeinsamen Berliner
Kindheitserinnerungen. „Zerreiß deine Pläne / Sei klug / Und halte dich an
Wunder“, hat Mascha Kaléko später gedichtet. Diese Wiederbegegnung in Berlin
war eines der schönsten Wunder ihres Lebens. Was aus Tilda und Pu geworden ist, wissen wir nicht.
Herzlichen
Glückwunsch! Sie haben jetzt schon mehr als die Hälfte des Gedichts gemeistert!
Am nächsten Wochenende kommen die letzten drei Strophen dran. Und dann ist auch schon fast Bescherung. Viel Spaß!