„Wir waren hier einst die Herren! Und wer sind wir jetzt?“

Muss Wladimir zum Arzt oder geht in den Supermarkt, beginnt er jedes Gespräch auf Lettisch. Und das, obwohl seine Muttersprache Russisch ist. Reiche sein Lettisch nicht aus, sagt der 79-Jährige, wechselten seine Gesprächspartner oft automatisch ins Russische. „Das ist für die meisten kein Problem.“ Um von der lettischen Mehrheitsgesellschaft willkommen geheißen zu werden, genüge es völlig, die Landessprache zu lernen – oder es wenigstens zu versuchen. 

In dem Café in der lettischen Hauptstadt Riga, in dem sich Wladimir mit der ZEIT trifft, sind von anderen Tischen Wortfetzen auf Lettisch wie auch auf Russisch zu hören. Doch viele Russen in Lettland – besonders ältere – wollten im Gegensatz zu ihm im Alltag kein Lettisch sprechen, sagt Wladimir. „Warum soll ich diese Hundesprache lernen?“, höre er oft von ihnen. Er glaubt: Die verächtliche Haltung dahinter richte sich nicht nur gegen die lettische Sprache, sondern gegen das ganze Land.

Das Misstrauen in Lettland wächst

Was Wladimir erzählt, steht exemplarisch für ein Land, das seit dem russischen Angriff auf die Ukraine um seine Identität ringt. Lettland, kaum zwei Millionen Einwohner groß, beherbergt eine der größten russischsprachigen Minderheiten in der EU: landesweit rund ein Viertel der Bevölkerung, in der Hauptstadt Riga sogar beinahe die Hälfte. Seit Russland 2022 die Ukraine überfiel, sieht sich die Regierung in Riga gezwungen, ihre eigene Verwundbarkeit neu zu bewerten. Und damit auch die Rolle jener Menschen, deren Muttersprache Russisch ist – und deren Loyalität der lettische Staat nun infrage stellt.

Der lettische Geheimdienst warnt, die Unterstützung für Putins Politik sei unter russischsprachigen Einwohnern des Landes überdurchschnittlich hoch. Staatliche Maßnahmen „zum Schutz der inneren Sicherheit und zur Förderung der Landessprache“ würden von vielen in dieser Gruppe abgelehnt, befeuert durch den „anhaltenden Konsum russischer Propaganda“, heißt es von der Behörde. Ergebnis seien „latente ethnische Spannungen“ im ganzen Land.

Russlands Staatschef Wladimir Putin hatte den Angriff auf die Ukraine damit begründet, russischsprachige Ukrainer vor vermeintlicher Verfolgung zu schützen. Aus dieser Gruppe rekrutiert Russland heute lokale Verwalter und Unterstützer in den besetzten Gebieten der Ukraine. Lettland befürchtet, Ziel desselben Vorgehens zu werden.

Diese außenpolitische Sorge belastet die lettische Gesellschaft bereits jetzt innenpolitisch: Wie will das Land mit hunderttausenden Russischsprachigen umgehen, denen es immer weniger vertraut? Und wie reagiert die russische Minderheit darauf, dass Lettland immer strengere Gesetze erlässt, die aus ihrer Sicht ihren gewohnten Alltag einschränken? 

„Wer russisches Fernsehen schaut, lebt gedanklich in Russland“

Viele in seiner Familie und unter seinen Bekannten fühlten sich von Lettland schlecht behandelt, erzählt Wladimir. Sie schauten russischsprachige Staatsmedien, die eine Verfolgung der Russen in dem Land herbei fantasierten. „Das sind alles Lügen“, sagt Wladimir. Aber bei vielen seiner Bekannten fielen sie auf fruchtbaren Boden.

Für die Russischsprachigen, die in der Sowjetunion groß wurden, sei der Fernseher die wichtigste Informationsquelle. „Wer russisches Fernsehen schaut, lebt gedanklich in Russland“, sagt Wladimir. Immer wieder habe er das Bedürfnis, mit Verwandten und Bekannten über Putins Verbrechen in der Ukraine zu diskutieren: „Aber ich kann nicht. Sie reagieren so, als wollte ich Russland erniedrigen.“

Was Russlands Staatsfernsehen als Erniedrigung der Russen in Lettland bezeichnet, ist eine Reihe von Schritten, die Lettland seit 2022 unternommen hat, um – so sagt es seine Regierung – die eigene Souveränität zu stärken.

Schulen, in denen bis vor Kurzem hauptsächlich Russisch gesprochen wurde, stellen ihren Unterricht auf Lettisch um. Öffentliches Fernsehen und Radio stellen ab 2026 ihr russischsprachiges Programm ein. Sowjetdenkmäler wurden demontiert, auch ein 80-Meter-Koloss, der dem Sieg der Sowjetunion gegen Nazideutschland gewidmet war.

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