Von der Gegenwart überholt

Die Vorsätze, mit denen Geraldine Rauch im Jahr 2022 in ihr Amt als Präsidentin der TU Berlin einzog, waren groß, vielleicht zu groß: prekäre Anstellungsverhältnisse wollte sie abschaffen, Diskriminierung gegen Minderheiten und Frauen bekämpfen, die Konflikte der Welt und der Gesellschaft in ihrer Universität verhandelt sehen und dabei selbst noch als Person des öffentlichen Lebens wahrgenommen werden. Nun verlor sie die Wiederwahl zur Präsidentin, sie wurde abgewählt. Ein Ende, das zu erwarten war – und an dem sich einiges ablesen lässt über die Veränderungen, die die Hochschulwelt in den vergangenen Jahren durchlebt hat.

Als junge Frau, links, dynamisch, kampflustig, passte sie gut in die Gegenwart, wie sie damals, 2022, war. Sie demonstrierte
auf Demos für sexuelle Vielfalt, trat mit Aufnähern auf dem Ärmel für
eine andere Fahrradpolitik auf und prangerte offen und laut auf Twitter
an, was ihr in der Wissenschaft und Politik missfiel.

Doch die Zeiten änderten sich. Auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine folgte der Terrorangriff der Hamas, folgte der Krieg in Gaza, folgte Donald Trump. Die
internationale Wissenschaft stand auf einmal unter Beschuss. Und die
Universitäten rückten zunehmend ins Licht der Öffentlichkeit. Der Alltag der Hochschulen und ihrer Präsidentinnen und Präsidenten wandelte sich binnen Monaten radikal. Eingangshallen und Hörsäle wurden von propalästinensischen oder israelischen Protestgruppen besetzt. Es kam zu antisemitischen Ausfällen. Jüdische Studierende wurden auf den Campi bedroht. Propalästinensische Studierende rassistisch angegangen. Die Universität wurde zum Kampfgebiet. Und zur Aufgabe jeder Hochschulleitung wurde es, zwischen den Fronten zu schlichten.

Doch während sich ihre Amtskollegen an der FU oder TU darum bemühten, sich in politischer Neutralität zu üben und versuchten, großes mediales Aufsehen zu vermeiden, um Forschung und Lehre zu schützen, entschied sich Geraldine Rauch für das Gegenteil. Auf X likte sie einen propalästinensischen Tweet, in dem Israels Ministerpräsident Netanjahu auf einem Bild mit Hakenkreuz dargestellt wurde. Trotz Rauchs öffentlicher Entschuldigung blieb das für viele ihrer Kollegen an der TU, für Politiker und den israelischen Botschafter Ron Prosor ein unvergesslicher antisemitischer Affront.

Es war der Anfang vom Ende. Nicht, weil sich der Verdacht des Antisemitismus bestätigt hätte. Das Kollegium versicherte stets, Rauch hätte keine solche Tendenz. Doch ihr Umgang mit dem Skandal stieß vielen anhaltend bitter auf. Sie verlas ein öffentliches Statement, in dem sie Reue zeigte. Sonst passierte vorerst nichts. Erst nach fünf Monaten stellte sich Rauch in Interviews den Fragen der breiteren Öffentlichkeit und rückte das skandalbehaftete Bild, das von ihr und ihrer Universität entstanden war, zurecht.

Zum Schaden ihrer eigenen Universität. Denn die wurde in der Zwischenzeit von der Politik sanktioniert. Der damalige Kanzler Scholz etwa lud Rauch aus seinem Zukunftsrat aus. Er hielt ihre Personalie nach dem Skandal für untragbar. Auch weitere Politiker blieben der TU danach vorerst fern. „Ein Desaster für die TU und ihren Ruf“, heißt es aus Rauchs Umfeld dazu. Und: „Typisch für Geraldine Rauch.“

Denn ihr Umgang mit dem Skandal bestätigte das, was vielen ohnehin schon an Rauch missfallen hatte: das Bild einer Präsidentin im Alleingang. Rauch, so lautet der Vorwurf durchweg, stelle ihr eigenes Ansehen über das der Universität. Sie könne ihre persönliche Agenda nicht von der einer Universität trennen.

In der Folge stimmte vergangenen Juni bereits eine knappe Mehrheit des akademischen Senats der TU für ihren Rücktritt. Rauch lehnte diesen ab. Stur hielt sie an ihrem Amt und ihrem Führungsstil fest. Heute wurde sie offiziell und mit großer Mehrheit aus dem Amt votiert. Mit 42 Stimmen setzte sich die Informatikprofessorin und bisherige Vize-Präsidentin Fatma Deniz gegen Rauch durch.

Auch für die künftige Präsidentin dürfte die Aufgabe, eine Universität in diesen politisch erhitzten Zeiten zu leiten, keine einfache werden. Ruhiger wird es vorerst sicher nicht werden. Die Kommunikation innerhalb der TU und aus ihr heraus könnte sich zukünftig aber wieder zum Positiven wandeln. Denn man könnte spekulieren, dass wie damals Rauch nun auch Deniz gut in die Gegenwart passt: Immerhin forscht die Informatikerin an der Schnittstelle von Neuro- und Datenwissenschaft, mit einem besonderen Fokus auf Sprachverarbeitung in technischen Systemen. Das sind Themen, die ohne Vernetzung nicht zu denken sind. Allen Kritikern präsidialer Alleingänge dürfte das Hoffnung machen.

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