Ein Jubelmoment der Musikgeschichte

Es ist eine Champagnerdusche. Sprudelnd und blubbernd fliegen die Orgeltöne durch die Luft, ein bisschen ungestüm klingt’s, ein bisschen wild – und ziemlich aufregend. Die Bach-Orgel der Leipziger Thomaskirche wird in einem ultravioletten Neonblau angestrahlt, auf den roten Rippen des Deckengewölbes drehen sich projizierte Lichtstrahlen. Disco! Party! Ein Fest für das ungebändigte Talent, das sich hinter dieser Musik verbirgt. Es ist das Talent des wohl größten Komponisten aller Zeiten, das von Johann Sebastian Bach. Diese Musik ist neu, es sind neue Töne von einem Toten, und deshalb ist dieser Nachmittag in der Leipziger Thomaskirche, Bachs wichtigster Wirkungsstätte, eine Weltsensation. Schon ein paar unbekannte Takte eines Komponisten von Rang erregen in der Musikwelt Aufsehen, aber gleich zwei ganz neue Werke? Das gibt es so gut wie nie. Wo kommen sie her, wie kann das sein? Und was bedeuten sie für das Schaffen des großen Sebastian?

Kleine Vorbemerkung: Die Überlieferungssituation für die Musik von Johann Sebastian Bach ist unübersichtlich. Es gibt keine säuberliche Auflistung aller seiner Werke in Partituren, die er selbst geschrieben hätte. Im Gegenteil. Vieles existiert nur in Abschriften lang verlorener Originale, vieles lag in den verschiedensten Archiven verstreut herum, von vielem weiß die Welt bis heute nichts. Die Lage ist komplex und unordentlich, wie gesagt. In einem solchen Wirrwarr schlägt die Stunde der Spürnase. In diesem Fall gehört sie einem kleinen Herrn mit grauem Haar, dem Direktor des Leipziger Bach-Archivs, Peter Wollny. 33 Jahre hat er gebraucht, bis er beweisen konnte: Ja, hier handelt es sich um Musik, die die Welt noch nicht kennt. Und sie ist von Bach.

Ein paar Stunden vor der Erstaufführung steht Wollny neben Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, der eigens angereist ist. Die Pressekonferenz findet auf der Westempore der Thomaskirche statt, zwischen Orgeln und Kruzifixen. Wollny erzählt eine Detektivgeschichte: 1992 schnüffelte er als junger Forscher in der Königlichen Bibliothek zu Brüssel herum und gelangte an das Handschriftenkonvolut eines unbekannten Kopisten, darin: Noten von verschiedenen Orgelwerken. Zwei dieser Werke erregten sofort seine Aufmerksamkeit, denn Wollny war sich anhand der Schrift des Kopisten und der Wasserzeichen des Papiers sicher: Diese Noten wurden im frühen 18. Jahrhundert in Mitteldeutschland aufgeschrieben. Und wer wirkte dort als Komponist und Organist? Genau.

Der wichtigste Deutsche, den man in der Welt kennt

Auch die abgeschriebene Musik selbst, dachte Wollny, könnte von Bach stammen, aber ein Beweis für die Echtheit war das natürlich noch nicht. Um Bachs Handschrift selbst handelte es sich definitiv nicht. Nach weiterer detektivischer Recherche in anderen Archiven fand der Wissenschaftler andere Abschriften desselben Schreibers und war sich sicher: Hier hat jemand systematisch Stücke von großer Qualität kopiert. Sogar solche, die erwiesenermaßen von Bach waren. Die Spur wurde heißer. Doch wer war der Abschreiber? Und wie konnte man ihn mit Bach verbinden?

Erst 2012 stieß Wollny auf den Brief eines Musikers namens Salomon Günther John. John schreibt in diesem Brief, wie er erst in Arnstadt und dann in Weimar bei Bach, der an beiden Orten gewirkt hat, in die Lehre gegangen sei. Die Handschrift Johns und die Handschrift des Kopisten glichen sich. Die Spur wurde ganz heiß. Doch erst 2025 gelang es Wollny, die Beweiskette abzuschließen, um mit ziemlicher Sicherheit sagen zu können: John hat 1705, als Schüler Bachs, zwei Werke, die der Komponist selbst in Orgeltabulatur (eine Art Kurzschrift) notiert haben muss, abgeschrieben und sie in normale Notenschrift konvertiert. Bei den Werken handelt es sich um zwei Chaconnen, jeweils sieben Minuten lang.

Wenn Bach, wie der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung während der Pressekonferenz sagte, der wichtigste Deutsche sei, „den man in der Welt kennt“, dann werden diese Noten plötzlich eine national gewichtige Angelegenheit. Der Kulturrepräsentant der Nation, Wolfram Weimer, legte gleich noch ein paar Lorbeerkränze drauf, nannte den Thomaskantor „nicht nur ein Genie, sondern einen Weltstar“, deshalb sei „dieser Tag ein großer Moment der Freude für das ganze Land“.

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