Sechsundfünfzig Meter über dem Meer

Um 22 Uhr sollte die „Manila Express“ fertig beladen sein. Doch die Hafenarbeiter der HHLA nehmen sich Zeit. Um 23.18 Uhr werden die Ausleger von zwei Containerbrücken noch einmal abgesenkt. Mehr Stahlkisten kommen an Bord oder werden umgestaut. Kapitän Jens Vogt schaut von der Nock an Steuerbord, dem Brückenausleger an der rechten Schiffsseite, auf die nächtliche Arbeit am Terminal Burchardkai. Die Stimmung hier oben, 56 Meter über der Wasserlinie, ist ruhig, konzentriert und doch ein wenig angespannt. Bis 0.30 Uhr will der Kapitän gern abgelegt haben und den Hamburger Hafen verlassen. Später steht das Wasser zu niedrig. Und allmählich wird die Zeit nun knapp.

Schon seit Donnerstagmittag liegt die „Manila Express“ am Burchardkai, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist das 399 Meter lange, 61 Meter breite Containerschiff immer noch an den Tauen fest. Gut 5000 Container wurden zwischenzeitlich entladen, etwa 3200 auf das Schiff gebracht. Hamburg ist der End- und Startpunkt des Liniendienstes FE3, der bis ins chinesische Ningbo führt. Den Freitag hat die Besatzung wegen eines Streiks bei der HHLA verloren – in einem Fahrplan, der wegen der Blockade des Roten Meers und des Suezkanals durch die Attacken der jemenitischen Huthi-Armee auf die Schifffahrt ohnehin längst Makulatur war. Und für den gerade beginnenden Mittwoch haben die Hafenarbeiter schon den nächsten Streik angekündigt. „Damit tun sie sich keinen Gefallen“, sagt Ben Lodemann auf der Nock, der bis Anfang 2023 zehn Jahre lang der Ältermann der Elblotsen war und der die „Manila Express“ in dieser lauen Nacht zur Deutschen Bucht lotsen wird: „Der Hafen hat in den vergangenen Jahren schon viel zu viel an Ladung verloren.“

Die „Manila Express“ und ihre Schwesterschiffe in der Flotte von Hapag-Lloyd sind die größten Frachter, die je unter deutscher Flagge gefahren sind. Voll beladen wiegen diese Schiffe rund 292.000 Tonnen, das entspricht dem Gewicht von mehr als 4500 größeren Rangierloks. Sie können mehr als 200.000 Tonnen Ladung tragen, ihre maximale Kapazität liegt bei 23.664 Containereinheiten (TEU). Schiffe wie die „Manila Express“ sind hocheffiziente Werkzeuge des Welthandels. Sie beschleunigen den Wettbewerb zwischen den Häfen und die Herausbildung maritimer Verteilzentren speziell auf den Routen zwischen Europa und Asien, den sogenannten „Hubs“ – in Nordeuropa sind dies vor allem Rotterdam und Antwerpen. Wie ein Kontrastmittel zeigen die Containerriesen die Stärken und die Schwächen, die Vorteile und die Defizite von Häfen auf. Sie zwingen die Betreiber der Terminals und die öffentliche Hand zu Investitionen in die Erweiterung der Infrastruktur, in neue Containerbrücken und auch in immer stärker automatisierte Systeme zur Zwischenlagerung der Boxen.

Hamburgs Hafen tut sich mit diesem Konkurrenzkampf schwer. Seit mehr als 20 Jahren plant die HHLA die Automatisierung ihres größten Containerterminals Burchardkai, seit fünf Jahren wird sie realisiert. Der Streik der Hafenarbeiter am Tag nach der Ankunft der „Manila Express“ gilt auch dem Protest gegen neu installierte Automatiksysteme auf der Anlage. „Der Hamburger Hafen ist grundsätzlich in der Lage, Schiffe dieser Größenordnung leistungsfähig abzufertigen. Das unterscheidet ihn von einer nicht unerheblichen Zahl seiner Wettbewerber in Nordeuropa“, sagt Jan Ninnemann, Professor für Logistik an der Hamburg School of Business Administration (HSBA). „Probleme bereitet allerdings die Zahl der Anläufe: enge Tidezeitfenster, Begegnungsverbote auf der Elbe und die Verfügbarkeit geeigneter Wendekreise führen dazu, dass der Hamburger Hafen bei einer steigenden Zahl an Großschiffsanläufen perspektivisch an seine Grenzen stößt.“

Immer mehr Großcontainerschiffe mit mehr als 18.000 TEU Kapazität setzen die führenden Reedereien zwischen Europa und Asien ein. 272 Anläufe der Megamax-Klasse zählte der Hamburger Hafen 2023, im Jahr 2019 waren es 165. Allein die neue Hamburg-Express-Klasse von Hapag-Lloyd umfasst zwölf solcher Riesenfrachter, alle mit Heimathafen Hamburg. Sieben davon, inklusive der „Manila Express“, sind schon in Fahrt. Ihren maximalen Tiefgang von 16,30 Meter können solche Schiffe auf der Elbe allerdings nicht erreichen. Auch deshalb ist Hamburgs Hafen kein „Hub“.

Gegen 0.40 Uhr am Mittwoch fährt die „Manila Express“ aus dem Hafen heraus, assistiert von zwei Schleppern und je zwei Hafen- und zwei Elblotsen. Hamburg bettet sich zur Nacht, und die Besatzung führt ihr Schiff auf die nächste, vier Monate lange Reise nach Asien und zurück. Am Mittwochvormittag passiert der Frachter Helgoland. Der Erste Offizier Kamil Klóska steht auf Brückenwache. Fünfeinhalb Tage in einem Hafen zu liegen wie gerade in Hamburg, das sei schon sehr ungewöhnlich, sagt er. Auf der Tiefwasserreede westlich von Helgoland liegen rund ein Dutzend große und kleinere Schiffe, die auf Einfahrt in die Elbe und nach Hamburg warten.

Die globale Logistik wird gerade wieder kräftig strapaziert – zwar längst nicht so wie während der Pandemie, als wegen Nachschubmangels ganze Fabriken stillgelegt wurden. Aber die Krise ist spürbar, auch durch die stark gestiegenen Transportpreise für die Container, die Frachtraten. Seit die Huthi, Irans Verbündete im Jemen, Schiffe im Roten Meer beschießen, fahren vor allem die Linienreedereien mit ihren Containerschiffen um Südafrika herum. Das kostet je Richtung zehn Tage mehr Zeit, und es erfordert zusätzliche Schiffe. Unwetter, Hafenstreiks und andere Probleme setzen den globalen Seetransport unter Stress – und damit auch die Unternehmen vor allem in der Industrie mit ihrer „Just in time“-Produktion, der präzisen Anlieferung von Teilen und Materialien aus aller Welt an die Fabrikbänder.

„Wir beobachten kontinuierlich die globale Ereignislage, die Entwicklungen auf den Weltmeeren und in den Häfen“, teilt der weltgrößte Automobilhersteller Volkswagen mit Sitz in Wolfsburg auf Anfrage mit. „Hierzu stehen wir in ständigem Austausch mit Reedern und Spediteuren, um frühzeitig zu agieren und bei Bedarf Maßnahmen ergreifen zu können.“ Eingreifen könne Volkswagen zum Beispiel bei „Dispositionsvorlaufzeiten und Sicherheitsbeständen“. Die längeren Fahrzeiten der Schiffe aus Asien seit Ende 2023 seien „fest in die Steuerzeiten eingeplant. Bei unvorhergesehenen, meist sehr kurzfristigen Ereignissen sind hier auch Alternativtransporte möglich. In aller Regel kommen hierbei aufgrund der kurzen Vorlaufzeiten nur Luftfrachten in Betracht.“

Hapag-Lloyd, die größte deutsche Reederei und fünftgrößte Linienreederei der Welt, steuert mit vielen Maßnahmen gegen die Verwerfungen an: Die Anpassung der Geschwindigkeit auf den Schiffen zählt dazu, um Verspätungen aufzuholen, die Angleichung der Hafenanläufe und, falls nötig, mitunter auch das Auslassen einzelner Häfen. Hapag-Lloyd soll die pünktlichste Linienreederei sein, das ist seit Jahren der Anspruch des Vorstands. Schwierig ist es derzeit, die Effizienz der größten Containerschiffe voll auszufahren: „Einerseits können größere Schiffe mehr Fracht auf einmal transportieren. Das führt zu Kosteneinsparungen je transportierter Containereinheit und verbessert die Wirtschaftlichkeit auf den langen Strecken“, sagt Silke Lehmköster, die Chefin der 287 Schiffe umfassenden Flotte von Hapag-Lloyd. „Andererseits können größere Schiffe bei Staus in Häfen oder auf Seewegen mehr betroffene Ladungseinheiten aufweisen und benötigen länger für die Be- und Entladung, was zu Verzögerungen führen kann.“ Die Entscheidung für große oder kleine Schiffe „hängt stark von den spezifischen Marktbedingungen und der Infrastruktur der angelaufenen Häfen ab“.

Die „Manila Express“ ist unterdessen durch das Verkehrstrennungsgebiet „German Bight Western Approach“, den Tiefwasserweg, am Mittwochmittag nach Antwerpen unterwegs. Kapitän Jens Vogt, Chef von 27 Personen Besatzung, sitzt umgeben von Aktenmappen und Dokumenten im Schiffsbüro. Seit 1988 fährt er für Hapag-Lloyd. „Die Geschwindigkeit ist das einzige Mittel, mit dem wir Verzögerungen vonseiten des Schiffes ausgleichen können“, sagt er. „Aber gemeinsam mit unserem Network Operations Center in Hamburg schauen wir immer drauf, ob sich ein höherer Verbrauch bei höherer Geschwindigkeit wirklich lohnen würde.“

Das Themenspektrum an Bord hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert – auch, aber nicht nur wegen der immer größeren Schiffe. „Die bürokratische Arbeit, die Verwaltungsarbeit, hat stark zugenommen. Das liegt auch an einer wachsenden Zahl von Richtlinien auf internationaler Ebene und in den verschiedenen Seegebieten und Häfen“, sagt Vogt. Neue Herausforderung entstehen auch auf See – vor allem in den engen Küstengewässern wie an der Nord- und der Ostsee, die durch die Energiewirtschaft immer mehr zu Industriegebieten werden: „Die Vielzahl neuer Offshore-Windparks, die wir jetzt vor allem auch in Nordeuropa sehen, verringert speziell auch für so große Schiffe wie die ,Manila Express’ die Ausweichflächen zum Beispiel zum Ankern oder zu besonders langsamer Fahrt bei Verzögerungen in den Häfen. Es wird eindeutig enger in den Küstenregionen.“

Für den Vorstand von Hapag-Lloyd steht dennoch fest, dass die Reederei auch Containerschiffe der größten Klasse braucht, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können. Von 2025 an koordiniert Hapag-Lloyd seine Liniendienste im neuen Bündnis „Gemini Cooperation“ mit der weltweit zweitgrößten Linienreederei, dem dänischen Unternehmen Maersk. „Die sogenannten Hubs, die zentralen Häfen der Containerschifffahrt, könnten theoretisch auch ohne Megaschiffe existieren“, sagt Rolf Habben Jansen, der Vorstandsvorsitzende von Hapag-Lloyd. „Aber natürlich braucht es für die wichtigsten Routen einer Reederei sehr große Schiffe – und dann eben auch die entsprechenden Hubs.“ Neben den zwölf Schiffen der Hamburg-Express-Klasse stellt Hapag-Lloyd derzeit auch sechs neue Frachter mit je 20.000 Containereinheiten Kapazität in Dienst.

Insgesamt hat die Flotte der Hamburger Reederei aktuell eine Stellplatzkapazität von 2,2 Millionen TEU: „Unsere Strategie ist es, mittelfristig eine Kapazität von drei Millionen TEU zu haben“, sagt Habben Jansen. Flottenchefin Lehmköster sagt, ein Schiff wie die „Manila Express“ verbrauche „zehn bis 15 Prozent weniger Brennstoff je transportierter Containereinheit als ein Schiff mit 16.000 TEU Kapazität“. Das senkt die Energiekosten und ist unabdingbar für das Ziel der „Klimaneutralität“, das Hapag-Lloyd bis 2045 erreichen will, künftig auch mit synthetischen Kraftstoffen.

Tief unten im Rumpf, in der dröhnenden Maschinenhalle der „Manila Express“, erklärt Adam Szulta deren Effizienz. Der Elfzylinder-Zweitaktmotor von Hyundai MAN B&W schiebt das Schiff mit rund 80.000 PS Leistung durch die Meere. Die „Manila Express“ transportiert mehr als doppelt so viel Ladung wie ein großes Containerschiff vor 20 Jahren, verbraucht aber weniger als halb so viel Brennstoff. Auch deshalb, weil Schiffe in den Asienverkehren früher auf Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 26 Knoten (rund 48 Kilometer je Stunde) ausgelegt waren. Bei Großfrachtern wie der „Manila Express“ reichen 22 Knoten aus. Die Hauptmaschine kann schwefelarmes Schweröl und – speziell auf der Langstrecke – auch tief gekühltes, verflüssigtes Erdgas (LNG) verbrennen. Die Nutzung von LNG verursacht deutlich weniger Luft- und Klimaschadstoffe als der Einsatz von Schweröl. „Auf der Langstrecke verbrauchen wir etwa 100 Tonnen LNG am Tag. Bei langsamer Fahrt mit weniger als 18 Knoten sind es etwa 80 Tonnen am Tag“, ruft Szulta in den Lärm der sirrenden und stampfenden Aggregate, für den man einen Gehörschutz benötigt. Der riesige LNG-Tank sitzt unter dem Brückenhaus, damit nicht zu viel Ladevolumen verloren geht. Auch die Generatoren für den Bordstrom und der Brauchwasser-Boiler werden mit LNG betrieben.

Im milden Licht kommt am Mittwochabend am Horizont eine rechteckige Silhouette in Sicht. Es ist die „Berlin Express“, ein Schwesterschiff der „Manila Express“. Der Erste Offizier Kamil Klóska misst auf der Brücke am Display der elektronischen Seekarte den Abstand, 21 Meilen beträgt die Entfernung, rund 34 Kilometer. Die „Berlin Express“ liegt 32 Meilen, etwa 51 Kilometer, nordnordwestlich der niederländischen Insel Terschelling vor Anker. Das Schiff hat viel Ladung an Bord, aber es kann noch nicht in Hamburg einlaufen, der Verkehr in Richtung der Hansestadt staut sich. Die „Manila Express“ fährt mit vier Meilen Abstand vorbei. Über Funk tauschen die Seeleute zwischen den Brücken der beiden Frachter Grüße aus. Erst eine Woche später wird die „Berlin Express“ am Terminal Burchardkai in Hamburg festmachen.

Am Donnerstagvormittag steht Vogt auf der Brücke. Vor Rotterdam liegen Dutzende Schiffe. Frachter, Tanker, Fähren, Schlepper pendeln von und zur Küste. Der Kapitän wartet auf die Lotsen zur Einfahrt in die Schelde. Sie waren für 11 Uhr angesagt, aber es dauert länger. Die Revierzentrale hat ihn informiert, dass Mangel an Lotsen herrscht. Fällt auch nur einer aus, muss ein Schiff wie die „Manila Express“ im Zweifel an den Anker gehen. Der Gedanke bereitet dem Kapitän schlechte Laune. Um 11.30 Uhr lässt er die Maschine stoppen, um auf die Lotsen zu warten. Mit 2,5 Knoten driftet das Schiff weiter nach Südwesten. Um 12.30 Uhr bringt das Versetzboot die beiden Lotsen an Bord.

Dann geht es über die stark befahrene Schelde nach Antwerpen, Europas zweitgrößten Hafen. Vor Vlissingen werden die Seelotsen durch zwei Hafenlotsen ersetzt. Sie bringen das Schiff vorbei an der Hafenstadt Terneuzen und querab zu den Ausfahrten von Kanälen, durch enge Flussbiegungen mit viel Gegenverkehr bis zum Abend ans nächste Ziel. Vor dem Nordzee-Terminal am Nordrand des Hafens dreht die gewaltige „Manila Express“ mithilfe von drei Schleppern nahezu auf der Stelle, damit sie vorwärts wieder ablegen kann. Routinearbeit kann so ein Manöver nie sein. „Die Dimensionen der ,Manila Express’“, sagt Vogt, „war ich so früher auch nicht gewohnt.“ Auf seinem Smartphone zeigt er ein Foto vom Jahresbeginn am selben Terminal. Ein Schiff einer anderen Reederei hatte mit seinem Bug in einer Sturmböe eine Containerbrücke umgestoßen, die rückwärts in den Terminal kippte und in die Containerstapel einschlug.

In Antwerpen gehen 1183 Boxen von Bord, 3332 werden geladen. Nach zwei Tagen ist die „Manila Express“ wieder klar zum Auslaufen. Diesmal pünktlich und ganz ohne Streik.

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter der WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit mehr als 30 Jahren über die maritime Wirtschaft und die Schifffahrt, unter anderem auch in seinem Buch „Eine Kiste erobert die Welt“ über den Siegeszug des Containers im Seeverkehr. Als erster Journalist konnte er auf einem der neuen Großcontainerschiffe der Hamburg-Express-Klasse von Hapag-Lloyd mitfahren.