Das Haus des Rundfunks im Berliner
Westen ist ein wunderschönes Beispiel der Neuen Sachlichkeit, entworfen von
Hans Poelzig und zwischen 1929 und 1931 gebaut. Ursprünglich gab es da
Sprinkleranlagen in den Büros, um die Mitarbeiter in den heißen Monaten mit
feinen Wassertröpfchen zu kühlen. Leider hat sich diese Erfindung nicht durchgesetzt.
Aber nach dem Konzert von Tristan Brusch im großen Sendesaal des RBB hatte das Publikum auch so einen leichten feuchten Film auf den Gesichtern.
Brusch ist ein mit allen Wassern
gewaschener deutscher Chansonnier, auch wenn das einen Widerspruch in sich
darstellt. Weil es Chansons (oder Canzoni) in Deutschland seit 1933 eigentlich
nicht mehr gibt; die vornehmlich jüdisch-deutsche Kultur des Kabarettliedes in
der Tradition Friedrich Hollaenders fand nach dem Krieg keine populäre
Fortsetzung. Der Rest war Schlager. Und der ist stark im Ton, die Stimme wirkt
fest, und der Glaube an die Liebe bleibt selbst im Scheitern unerschütterlich.
Die Stimmen des Chansons aber flattern. Sie sind mal laut, mal leise, mal
säuseln sie, mal stößt ihnen etwas auf. Sie zweifeln – an der Welt und an sich selbst.
Tristan Brusch weiß, dass dieser Zweifel
leicht wirken muss, er muss tänzeln, torkeln, im Refrain darf er auch mal
fliegen. Stampfen dürfen Chansons aber nie.
Im Sendesaal erhält Brusch für die
Präsentation seines gerade erschienenen Albums viel musikalische
Verstärkung, um seine melancholische Zweifelkunst zur Entfaltung zu bringen. Es
ist das letzte und beste Album einer Trilogie, der dritte Teil nach vor vier
Jahren und vor zwei. Wichtiger als der unklare thematische Überbau
der Trilogie ist aber, dass aus dem guten Musiker und Produzenten Brusch über
drei Alben hinweg ein famoser Sänger und Songwriter geworden ist. Ginge es
gerecht zu in der Musikwelt, müssten ihm die besten Bands und Orchester zur Verfügung stehen. Bisher allerdings trat er meistens solo auf. Weil der Markt
in Deutschland selbst für die Talentiertesten nicht mehr hergibt – außer sie
sind ungefähr 70 Jahre alt und haben ihren Ruhm im letzten Jahrhundert erlangt,
als die Leute am Samstagabend fernsahen und am Montag Millionen
Schallplatten kauften.
Nun sitzt ihm immerhin ein Streichertrio auf
einem Podest zur Seite, Timon Schempp spielt sachte, aber präzise
Schlagzeug, Ralph Heidel bläst melancholische Linien auf dem Altsaxofon, wenn er
nicht den Flügel oder die Orgel bedient. Und die junge Bassistin Leonie Geisler
steht erhöht in der Mitte, hat alle im Blick wie eine musikalische Leiterin
und sorgt selbst in den Balladen mit ihrem Grinsen für gute Laune. Denn
der Chef mit Gitarre ist nervös, wie er selbst zugibt. Mit Band zu spielen ist
neu für ihn. Aber da die Lieder von einer durch und durch verletzlichen
Männlichkeit erzählen, fällt das gar nicht auf:
„Mach dir um mich bloß keine Sorgen,
Tristan / Ich bin an vielen Wochentagen nüchtern / Bin auch Steuerzahler und ein
grundsolider Schläger / obendrein.“
„Tristan“ und „nüchtern“
reimen sich mühelos in seiner Diktion, die am Satzende etwas abgeschliffen ist. Am Ende des Liedes mündet die Zeile in
ein Zitat, nein, in ein Cover von Chris Isaaks .
Isaak sang .
Bei Brusch ist der lange Vokal das in „obendrein“. Und das ist wahnsinnig
komisch. Die besten Chansons sind Gestaltenwechsler, sie werben um ihr Publikum, als Verführer und als Clowns.
Eine kleine Verbeugung vor den Beatles
In der Regel versteckt Brusch die
Zitate, er leiht sich nur kleine Tricks oder ein paar berühmte Akkorde.
zum Beispiel beginnt sofort mit dem Refrain, so hielten es auch die Beatles oft
in der ersten Hälfte ihrer Weltkarriere. Man möchte immerzu zitieren aus
den Lyrics, die oft von abrupten Sprüngen leben, die Brusch nahtlos erscheinen
lassen kann. Wie in , wenn die zurückschauende Melancholie der
ersten Zeile „My, my / Hundert Jahre Leichtigkeit“ der Unmittelbarkeit in
der zweiten weicht: „Hast du nach der Schule Zeit“.
Bei verlässt er den Mikrofonständer,
setzt die Gitarre ab und geht zum Flügel, den er so dynamisch spielt, wie er singt. Man merkt, er könnte alles allein meistern, weil er weiß, wie
man Zitate beiläufig spielen muss wie den einen Akkord von Angelo Badalamentis
Titelmelodie für . Und am Ende von mag,
wer will, auch die absteigende Kadenz vonhören. Aber das ist
jeweils nur der Stuck an den Decken seiner Songzimmer. Die Inneneinrichtung bleibt davon unbeeindruckt, Plagiate sind es nie.
Aber was oder wer
wohnt wirklich in diesen wundervollen, manchmal mit der Peinlichkeit
flirtenden Liedern? Vom Zweifel war schon die Rede, aber
besonders auf dem neuen Album kommt eine neue Mitbewohnerin dazu: die Bitte um
Vergebung. In vielen Liedern schämt sich der Sänger seiner nicht nur
freundlichen und zugleich vergehenden Männlichkeit. ist eigentlich
ein Album über viele Enden. Wann hat man zuletzt einen derart dialektischen
Popstar gesehen, der weiß, dass neue Anfänge nur möglich sind, wenn man das
Alte nicht verdrängt, sondern ordentlich begräbt?
Im Verlauf des
Konzerts geben Brusch und Band auch Lieder der beiden vorangegangenen Alben
zum Besten. Aber das neue Werk fügt den dunkel-melancholischen, nun mit dem
Thema der Vergebung fast religiös erweiterten Chansons noch einmal etwas
Entscheidendes hinzu. Man hört es in , das
Brusch live mit Arnim Teutoburg-Weiß von den Beatsteaks singt, mit dem
er es auch geschrieben hat. Es ist ein Lied darüber, wie sich ein Junge auf
einem Ruderboot im Sonnenlicht verliert und etwas spürt, das Brusch ganz
ähnlich gefühlt haben will, als er im Kinderzimmer die Raufasertapete anstarrte. So erzählte er es beim Konzert. Es ist in beiden Fällen eine kleine
Epiphanie, eine Erscheinung der Verbundenheit mit etwas Größerem, eine Art der
Ich-Auflösung. Und es ist der Grund, warum gute Künstler gute Kunst machen. Weil
sie dieser Verbundenheit hinterherjagen, die sie im Büro nie haben würden. Weil
sie nicht anders können. Der feine Film auf den Gesichtern war wohl der Abglanz
dieses Strahlens.
