Unter lauter Körpersäften blubbert nur die Leere

Am Ende steht er nackt auf dem
Berg. Okay, ein Hügel ist es eher, aber dafür ein steil aufragender. Man soll
bei diesem Bild ruhig an die Berge Norwegens denken, die steinern die Fjorde
umklammern. Auf dem Kamm oben steht er, strohblond wie Michel aus Lönneberga:
Peer Gynt, der Lügner, der Fantast, der Egozentriker – eben der Protagonist des
gleichnamigen, 1875 entstandenen Werks von Henrik Ibsen. Vor dem Gipfelsturm hatte Peer in dieser Inszenierung nun eine
platinblonde Schaufensterpuppe geräusch- und variantenreich gevögelt, jetzt
schubst er diese hangabwärts und singt von „Morast und Scham“. Eine zerdehnte
Viertelstunde lang echot das Wortpaar im Raum, untermalt von treibenden Beats.
Eine fast beschauliche Szene ist das im Vergleich zum bisherigen
Bühnengeschehen, bei dem sich Stimmen, Geräusche und Sounds, Filme, Videos und
Performance schrill und ständig überlagerten. Nun lang wähnt man sich fast bei
einem soft ausgepegelten Kraftwerk-Konzert oder bei sachter Spoken-Word-Poetry.
Tatsächlich befindet man sich – und zwar seit acht gnadenlos obsessiven Stunden – bei in der Volksbühne Berlin.

Vegard Vinge und Ida Müller haben
sich diesen herbeifantasiert. Die Inszenierung ist so maßlos wie
die Hauptfigur selbst, doch sie endet tatsächlich nach ziemlich genau acht
Stunden. Weshalb Vinge selbst schreiend kommentiert: „Acht Stunden sind kein Theater!“
Und die wahren Vinge/Müller-Fans raunen, das sei „kein echter Exzess“ und
„alles nicht so wild wie damals“. Unüberhörbar ist die Enttäuschung in ihren
Stimmen. Arbeitsschutz ist manchmal auch Zuschauerschutz, denkt man selbst,
nach diesen überdrehten Stunden, die angefüllt sind mit Wagner, Schubert und
K-Pop, Edvard Grieg, Sex und Trash. Acht Stunden Pop-Psychedelik mit enormem
Kunstwillen, acht Stunden, während derer sich die Parkettreihen in der Volksbühne deutlich
gelichtet haben. Voll ist es nur mehr auf den Stehtischen im Foyer, wo sich eng
die Bierflaschen drängeln.

Seit mehr als 20 Jahren arbeiten
der norwegische Regisseur und Schauspieler Vegard Vinge und die deutsche
Bühnenbildnerin Ida Müller als Regiekollektiv zusammen. Höchst selten
inszenieren sie im deutschsprachigen Raum. Zuletzt 2017. Da realisierten sie in
einer Lagerhalle im Norden Berlins ein Tage und Nächte währendes „Nationaltheater Reinickendorf„. Ihre zwölfstündige, für legendär erklärte
Version von Ibsens ist noch länger her: 2011 war das,
ebenfalls an der Berliner Volksbühne. Vor nicht allzu langer Zeit waren Vinge und Müller – nach René Polleschs überraschendem Tod am 26. Februar
2024
  – für die Interimsintendanz der
Volksbühne eingeplant. Diese sagten sie recht kurzfristig wegen Unterfinanzierung
ab
, ihre Spielzeiteröffnungsinszenierung nicht.

Meistens
bearbeitet das Künstlerduo – gemeinsam mit dem norwegischen Komponisten Trond
Reinholdtsen – Ibsen. Wobei „bearbeiten“ nicht das richtige Wort ist. Vielmehr
arbeiten sie sich ab an diesem norwegischen Volkshelden. Und zwar ganz eigenen,
extremen und aktionistischen Mix aus Geisterbahn, Splatter und Körpersäften.
Micky-Maus-artige Gummimasken, billig glänzende Perücken und konsequent
übersteuerte Voiceover-Akustik gehören zu den Stilmitteln. Für den
nervzerrenden Sound – Ohropax werden eingangs gereicht – wird viel Text und Ton
vorproduziert, wird während der Aufführung jeder Schritt, jedes Trippeln oder
Stampfen, jedes Körper-auf-Körper-Klatschen genauso wie jedes Lachen oder
Stöhnen comichaft und drastisch illustriert. Die Performerinnen und Performer agieren dazu
leicht zeitverzögert und wie Marionetten, ihre Gesichter sind bis zur
Unkenntlichkeit maskiert. Und so singt auch nicht der Performer des Peer Gynt
selbst, sondern tut nur so als ob. Was er „singt“,
ist fast egal: Wörter sind weniger Inhaltsträger, sind Musik- und
Rhythmusfetzen im Gesamtbeat.

Dieser hedonistische und radikale
Regiezugriff verstärkt die Haltung von Ibsens Antihelden. Peer Gynt (also der in Ibsens Stück) ist ja ein
Aufschneider, ein manischer Ichverwirklicher. Rastlos wechselt er
Lebensmodelle wie andere Menschen ihre Unterhosen. Nur um seiner selbst willen zieht dieser Halbwüchsige durch die Welt, nicht etwa, weil er sie oder womöglich
seine Mitmenschen kennenlernen will. Er ist schließlich einer, der nicht
weniger als „durch die Luft reiten“ kann und glaubhafte Geschichten erfinden.
Nicht zufällig ist „Peer, du lügst!“ der erste Satz – und auch einer der
bekanntesten –dieses Stücks. In einem engen Tal wächst Peer auf, sein Vater hat
sich Leib und Leben weggesoffen und auch das gesamte Kapital. Seine Mutter
Aase arbeitet sich wund. Mit seiner Fantasie, mit seinen Lügen und seiner
Frechheit kompensiert Peer die Herkunftsenge, klaut auf einem Hochzeitsfest die
Braut, „gewiss, sie weint ein bisschen“, treibt sich später in der Trollwelt
herum, überquert Meere und Flüsse, bereist ferne Wüsten. Er wird Kapitalist, ist
Prophet und Kaiser (einer psychiatrischen Klinik) bevor er leer und alt
zurückkehrt ins heimische Tal. Zahllosen Menschen und Sagengestalten ist er
begegnet, Ratgebern oder Alter Egos wie dem Großen Krummen und auch dem Tod –
aber nie sich selbst.

Ein Großkunstwerk, errichtet auf abgenagten Ibsen-Resten

Vinge/Müller dekonstruieren dieses Welt- und Seelendrama Ibsens, sie lassen nur ein paar wenige Handlungsfetzen zurück und den
ein oder anderen Verweis: Die Schaufensterpuppe etwa wird Ingrid gerufen, mit
einer üppigen Grünhaarperücke wird ein Wesen aus der Trollwelt behauptet, und
die auf der Bühne ausagierten Saufexzesse tragen den sauren Alkoholatmen von
Peer Gynts Vater. Wie im Rausch errichtet das Regieduo Vinge/Müller sein eigenes
Großkunstwerk auf den abgenagten Ibsen-Resten, als ein gieriges, um sich selbst
kreisendes und tatsächlich recht selbstherrlich wirkendes Stück Theater.

Darin tigert Vinge immer wieder im roten Joggingoutfit durch die Parkettreihen, geht – von einer Livekamera
verfolgt – raus ins Foyer, wohin sich der Bühnenraum auf wandhohen Prospekten
wie selbstverständlich erweitert. Detailreich, fast naiv gezeichnete
Muhamad-Ali-Poster, WM-Panini-Sticker oder -Plakate sind darauf zu sehen, genauso wie blutig aufgerissene Vulven und abgeschnittene Penisse. Zurück
im Saal bahnt sich der Performer den Weg tief in die Eingeweide des verschachtelten Bühnenbilds,
zwischen Pappwänden, Kreuzen und Neonreklamen hindurch bis ins Jugendzimmer von
Peer. Bei Vinge/Müller ist der ein im verregneten Amerika lebender und recht
antriebsloser Joy-Division-Fan. Viel, sehr viel Kunstblut spritzt, als dessen
Mutter Aase ihn in die Zimmerecke prügelt. Ein paar Stunden später wird dieser
Peer, die Frotteehose in den Kniekehlen, über die Bühne stolpernd masturbieren, bis
die Polizei kommt, und noch später im Antikriegsfilmkino papierne Kullertränen
vergießen.

Zwischen Stroboskoplicht,
Livevideobildern, literweise Glibber und einer seltsam kindlichen
Pappästhetik, die ein wenig an die Augsburger Puppenkiste erinnert, lassen
Vinge/Müller Orffs , Theatersperma-Mayonnaise und einen
papiernen Golden Retriever an einem Jägerzaun aufeinandertreffen, behaupten mit
Coca-Cola- und Fanta-Schriftzügen bisschen schlichte Kapitalismuskritik und
verweben Jazzklänge mit den dumpfen Schlägen überzeichneter Gewaltexzesse.
Subtilität ist ihre Sache nicht. Da trifft Faust auf Auge, Penis auf Hackebeil,
pendelt ein blutiger Tampon greifbar nah
an den vorderen Zuschauerreihen. Da feiert das Regieteam den postmodernen
Pluralismus und hat das bis tief in die Nacht ausharrende Publikum eine
Menge Nachsicht. 

Als ein bildlich gewordenes „Geh außen herum“ lässt sich
dieser Abend lesen, weil er selbst ein überbordendes, frei drehendes Assoziieren
und Herumgehen um den Kern einer Sache ist. Er setzt damit den Künstler als
selbstvergessenes, egozentrisches Genie in Szene. „Geh außen herum“, so
lautet in Ibsens Stück der Hinweis des Großen Krummen an Peer Gynt. Heißt:
einen Umweg nehmen, um zu sich selbst zu finden. Und was findet Peer? Als er
nach seinen Ausschweifungen zurückkehrt und darüber nachdenkend eine Zwiebel
schält? Keinen Kern. Nur Leere.

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