Drauf gepfiffen!

Das Wunderbarste daran, noch nicht allzu lang auf dieser Welt zu sein, ist vielleicht, noch nicht zu wissen, wo die Grenzen dieser Welt liegen. Also, im Grunde wissen Erwachsene das natürlich auch nicht so genau, und doch tun die meisten einfach so. Man darf es ihnen nicht verübeln, sie sehen darin die Aufgabe ihres Erwachsenseins: ein Netz aus klaren Regeln zu weben, in dem sich alle sicher fühlen, auch die kleinen, eher unwissenden Teile der Gesellschaft. Verantwortung nennen sie das.

Derart gewissenhaft darf man sich auch die Verwandten von Selma, einer kleinen Spinne, vorstellen. Die verbringen all ihre Zeit damit, Netze zu weben, in denen sie die saftigsten Fliegen fangen. Es ist eine perfekt proportionierte, vertikal und horizontal bestens austarierte Existenz.

Die Spinnen sehen auch noch alle gleich aus: schwarz, acht Beine, große Augen. Und dann gibt es eben Selma, die kleine Spinne mit der roten Baskenmütze, die von Seite zu Seite durch diese Landschaft der klaren Formen krabbelt. Die ihre Ohren auf Durchzug stellt, wenn die anderen ihr wieder und wieder sagen: „Selma, du machst das falsch!“ Diese Zurechtweisung ist zugleich der Titel des Bilderbuchs der Künstlerin Tini Malina. Ihr gelingt es auf den 48 Seiten, die aufgeräumte Welt der Spinnen zu zeichnen und in diesen Bildern doch, mit satten Farben und skizzenleichten Formen, die Ahnung an das zu verstecken, was Selma in ihr sieht. Denn Selma hat es sich zur Aufgabe gemacht, „die Pracht des Universums einzufangen“.

Einmal spinnt sie ein Netz, das aussieht wie der Regen; ein anderes Mal eines, das die Schönheit des Nachthimmels einfängt. Ihre Regentropfen sind überhaupt nicht symmetrisch gewebt, und ihre Sterne haben krumme Zacken. Wären ihre Verwandten nicht alle so schwer beschäftigt und könnten sie nur mal einen Moment innehalten, dann würde vielleicht einer von ihnen bemerken, dass diese kleine Meisterspinne hier die ganz große Frage stellt. Die, ob sich das Leben nicht auch anders betrachten ließe, etwas weniger akkurat und damit komplexer. Aber so webt Selma allein vor sich hin, immer höher, immer weiter.

Und sie tut das mit erstaunlicher Resilienz: All jenen Ermahnungen, auf die man als kleine Spinne vielleicht hören sollte, schenkt Selma exakt null Beachtung. So können Kinder, die ihren feinen Fäden über die Seiten hinweg folgen, gut darüber nachdenken, was eigentlich passiert, wenn man etwas ausprobiert und darauf vertraut, dass Ideen absolut richtig sein können, obwohl alle anderen sagen, sie seien es nicht.

Zugleich bietet Tini Malina mit ihrer Geschichte all den vor- und mitlesenden menschlichen Vollzeitverantwortlichen eine Auszeit an, das Universum für einen Moment nicht nur in erwachsenen Regelnetzen zu denken, sondern als chaotischen, niemals vollständig zu begreifenden Raum. Vielleicht stellen die sich sogar mal wieder Fragen über die Weiten der Existenz, über die Schönheit von Regentropfen, solche Sachen. Und vielleicht gucken sie dann, irgendwo auf diesem philosophischen Trip, neben sich und merken, dass sie ihrem vierjährigen Nachkommen gerade die Geschichte einer größenwahnsinnigen Spinne erzählen, die sich an absolut keine Regeln hält.

Was soll die sein, ein Vorbild? Unbedingt! Denn Selma erzählt von den Mutigen, die in dem ganzen großen Chaos der Welt und des Universums etwas Schönes entdecken wollen. Und mit Glück erkennt man, dass die Person neben einem das auch eifrig tut, wenn sie morgens im Kindergarten ihren liebsten Regenwurm streichelt oder sich freudig in Matschpfützen schmeißt.

Auf einer Seite, gerade als Selma ein bisschen an ihrer Aufgabe zu zweifeln beginnt, begegnet sie einer sehr alten Spinne, mit Gehstock und riesiger Brille. Die sagt: „Nur die Spinne, die riskiert, zu weit zu spinnen, kann herausfinden, wie weit sie spinnen kann.“ Ein kluger Satz, der gleich zwei Wahrheiten enthält, die zusammen etwas Wertvolles ergeben: Es ist möglich, etwas Außergewöhnliches zu schaffen, wenn man daran glaubt; es ist aber genauso möglich, zu merken, wenn man zu weit gesponnen hat. Irgendwo dazwischen liegt das, was wirklich Verantwortung heißt.

Selma guckt die alte Spinne an, überlegt, stimmt ihr zu. Und setzt ihren Weg fort.

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